Januar 2006:

Ärzteprotest gegen "Geiz ist geil"-Mentalität

Zehntausende Ärzte haben am 18. Januar ihre Praxen geschlossen, um gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen zu protestieren. Das war die bisher größte Protestaktion dieser Art in Deutschland. Politik und Krankenkassen sollten diesen Unmut ernst nehmen und zusammen daran arbeiten, das Gesundheitswesen wieder finanzierbar zu machen.

Ärzte-Protest in Berlin
Die BüSo war vor dem Landtag Rheinland-Pfalz mit Flugblättern bei der Mainzer dezentralen Kundgebung aktiv, um die entsprechenden wirtschaftspolitischen Lösungsansätze in die Diskussion zu bringen. Die Haupt-Demonstration war in Berlin, hier auf einem Bild unseres Berliner Landesverbands. - Dr. med. Wolfgang Lillge berichtet von dort.

In ganz Deutschland sind am 18. Januar in mehreren Städten insgesamt über 20 000 niedergelassene Ärzte auf die Straße gegangen, um gegen unzumutbare Arbeitsbedingungen, für bessere Bezahlung und gegen die überhandnehmende Bürokratie zu demonstrieren. Allein zur zentralen Protestveranstaltung in Berlin kamen etwa 14 000 Teilnehmer - erwartet hatte das Bündnis von 40 Ärzteverbänden, die den Protest koordinierten, nur etwa 5000 Teilnehmer. Es scheint, daß der Unmut über die sich zuspitzende Lage im Gesundheitswesen so weit angewachsen ist, daß Ärzte, die sonst nur schwer zu mobilisieren sind, in bisher ungekannter Zahl ihre Praxen geschlossen haben, um ihrem Zorn Luft zu machen.

Entsprechend kämpferisch war die Stimmung unter den Demonstranten und bei den Rednern der Ärzteverbände. "Krankenkassen machen krank", "Achtung, müder Arzt!", "Geld weg, Arzt weg" und "Pleite und krank, Ulla sei Dank" hießen einige der Slogans auf den mitgeführten Plakaten und Schildern. In einer Resolution hieß es, der Protest richte sich gegen die "Entrechtung der freiberuflich tätigen Ärzte und Zahnärzte" und eine "monströse Kassenbürokratie".

Ärztepräsident Hoppe forderte ein Ende der "staatlichen 'Geiz ist geil'-Mentalität". Die "katastrophalen Arbeitsbedingungen" und das "Aushungern des Gesundheitssystems" müßten beendet werden, sonst drohe ein Versorgungsnotstand. Schon heute stützten die Ärzte das Gesundheitswesen maßgeblich damit, daß sie für 12 Milliarden Euro unbezahlte Überstunden und Mehrarbeit leisteten.

Was die Ärzte immer mehr zu spüren bekommen, ist der einfache Umstand, daß das Gesundheitswesen massiv unterfinanziert ist. Die seit Jahren geltende Budgetierung hat den Effekt, daß immer weniger Geld für steigenden Behandlungsaufwand in das System kommt. Nach Angaben der Bundesärztekammer würden dadurch ein Drittel der Leistungen, die ambulante Mediziner heute erbringen, nicht mehr bezahlt. Dem liegt eine einfache Rechnung zugrunde: Die gesetzlichen Krankenkassen verteilen für ambulante ärztliche Leistungen jährlich rund 22 Mrd. Euro - unabhängig davon, wie viele Patienten tatsächlich behandelt werden müssen. Sobald dieser Betrag aufgebraucht ist, arbeiten die Ärzte gratis und schenken dem System so jährlich gut 7 Mrd. Euro.

Alle diese Zahlen sind zutreffend, und es gibt zahllose weitere Beispiele dafür, in welcher Zwangslage sich viele Arztpraxen, vor allem in Ostdeutschland befinden. Aber es ist auf dieser Ebene der Auseinandersetzung leider wie überall, daß andere am Gesundheitswesen beteiligte Gruppen jeweils "andere Zahlen" haben, um "ihre Position" zu untermauern. Gesundheitsministerium, private und gesetzliche Krankenkassen, Krankenhausverbände, Pharmaindustrie, Patientenvertretungen, Verbraucherverbände usw. sind immer sofort mit "überzeugenden Argumenten" bei der Hand, die zeigen, daß die Probleme im Bereich "der anderen" gar nicht so gravierend seien.

Genau dieses Spiel fand auch am Tag der großen Ärzteproteste statt. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, die inzwischen eine gewisse Meisterschaft im sophistischen Argumentieren erlangt hat, ließ verlauten, "die Einkommenssituation der Ärzte sowohl im niedergelassenen als auch im stationären Bereich ist nach wie vor vergleichsweise gut". Flugs wurden neue "Zahlen und Fakten zur Situation der Ärzteschaft" aus der Schublade gezogen, um "bei allem Verständnis für die Sorgen der Mediziner" der berechtigten Empörung der Ärzte die Spitze zu nehmen und sie in die bekannte Sozialneid-Ecke zu schieben. "Honorar und Bürokratie sind Sache der Ärzteschaft selber sowie der Selbstverwaltung", betonte Schmidt. "Das Wenigste ist gesetzlich verordnet." Damit ist der Schwarze Peter wieder bei den Ärzten, und die eigenen Fehlentscheidungen sind vom Tisch.

Auch die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen, der dritte große "Player" im Gesundheitswesen, hieb in die gleiche Kerbe. Sämtliche Protestaktionen der Ärzte gingen "an der sozialen und wirtschaftlichen Lage der Bevölkerung völlig vorbei". Für Ärzte könne es insgesamt nur dann mehr Geld geben, wenn auch die Beitragszahler der Kassen wieder deutlich besser verdienten als heute. Die Ärzte müßten sich vergegenwärtigen, daß ihr "jetzt beklagtes angeblich zu niedriges Einkommen von Beitragszahlern stammt, die im Durchschnitt ein monatliches Bruttoeinkommen von 2210 Euro (26 520 Euro pro Jahr) haben".

Würden wir in "normalen Zeiten" leben, könnte man sagen, das seien die üblichen, unschönen Auseinandersetzungen zwischen den gesellschaftlichen Gruppen. Da es aber, wie viele inzwischen am eigenen Leib spüren, um das Überleben des Gesundheitswesens geht, sind Spielchen dieser Art nicht nur unangebracht, sondern höchst gefährlich. Denn eines muß allen Beteiligten klar sein: Mit bloßen Umverteilungen von Geldern oder Budgets ist die Krise des Gesundheitswesens nicht zu lösen. Denn wenn es stimmt, daß "zu wenig Geld im System" ist, dann muß dafür gesorgt werden, daß wieder mehr Geld ins Gesundheitswesen fließt. Und wenn dieses Geld nicht aus anderen gesellschaftlichen Bereichen umverteilt werden soll, muß der gesellschaftliche Reichtum insgesamt wieder wachsen. Wir müssen mehr Wert schöpfen!

Genau ein solches Konzept hat die BüSo bei den Protestaktionen in Berlin den Ärzten vorgeschlagen. Der einzige Weg zur Rettung der Sozialsysteme ist die Schaffung Millionen neuer, produktiver Arbeitsplätze, Investitionen in die produktiven Wirtschaftsbereiche und eine Rückkehr zum Sozialstaatsprinzip und dem Gemeinwohl. Auf dieser höheren Ebene der Debatte müssen sich die Gruppen im Gesundheitswesen treffen, sonst werden vor allem die Kranken und Behinderten unter ihrer Weigerung, groß zu denken, leiden.


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