Februar 2002:
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Stasi-Akten: "Rigorose Aufklärung" bleibt notwendig

Altbundeskanzler Dr. Helmut Kohl
"Am 27. November 2000 hatte Altkanzler Dr. Helmut Kohl Klage beim Verwaltungsgericht Berlin gegen die BStU erhoben, um die Herausgabe von Unterlagen zu seiner Person (gemäß §32ff StUG) zu verhindern."

Man kann annehmen, daß Dr. Kohl (im Bild) dazu allen Grund hatte. Angelika Beyreuther-Raimondi berichtet über den Stand der Dinge.

Anläßlich des Jubiläums des Stasi-Unterlagen-Gesetzes luden das Leipziger Bürgerkomitee und die Leipziger Außenstelle der Behörde für die Unterlagen des DDR-Staatssicherheitsdienstes am 12. Januar zu einer gemeinsamen Tagung "Zehn Jahre Stasi-Unterlagen-Gesetz" nach Leipzig ein. Der ehemalige und die jetzige Bundesbeauftragte, Dr. Joachim Gauck und Marianne Birthler, Bürgerrechtler, Wissenschaftler, Journalisten, Politiker, Datenschützer und Archivare zogen bei der Veranstaltung Bilanz und kamen mehrheitlich zu dem Schluß: Die 1989 so heftig umstrittene Offenlegung der Unterlagen des MfS hat sich bewährt, es fand ein erwachsener Umgang mit den Akten statt - nicht die von Gegnern befürchtete "Hexenjagd" - , und die historische, politische und juristische Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS kam in diesen ersten zehn Jahren nach Ende der SED-Diktatur ein großes Stück voran.

Die "Causa Kohl"

Die Veranstaltung stand ganz unter dem Eindruck des neuentbrannten Streits um den offenen Zugang zu den Akten. Der Anlaß: Am 27. November 2000 hatte Altkanzler Dr. Helmut Kohl Klage beim Verwaltungsgericht Berlin gegen die BStU erhoben, um die Herausgabe von Unterlagen zu seiner Person (gemäß §32ff StUG) zu verhindern. Am 4. Juli 2001 entschied das Verwaltungsgericht Berlin in dem Rechtsstreit Dr. Helmut Kohl/Bundesrepublik Deutschland (BStU), daß die bisherige Praxis der Behörde bei der Herausgabe von Akten in bezug auf Forschungs- und Medienanträge unrechtmäßig sei und die Behörde sowohl Einsichtnahme in als auch Herausgabe von MfS-Unterlagen bzw. entsprechenden Kopien mit personenbezogenen Informationen über Helmut Kohl an Forschung und Presse zu unterlassen habe, soweit es sich dabei um Informationen handelt, die zu Helmut Kohl als "Betroffener" oder "Dritter" im Sinne des StUG gesammelt wurden.1 Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts wird aber in diesem Frühjahr erwartet. Erhielte das Urteil Rechtskraft, würde damit die historische und politische Aufarbeitung der Tätigkeit des DDR-Staatssicherheitsdienstes erheblich eingeschränkt werden.

Informationen über Personen der Zeitgeschichte, Personen des öffentlichen Lebens, Amts- und Funktionsträger könnten dann - unabhängig von der Art der Informationsquelle - nur in anonymisierter Form und nur mit Einwilligung der betreffenden Person zugänglich gemacht werden. Das Gericht hat in seiner Urteilsbegründung aber darauf hingewiesen, daß der Gesetzgeber durch eine Präzisierung des Paragraphen 32ff StUG hier selbst Klarheit schaffen könne: "Hält man es aber aus heutiger Sicht für erforderlich, den Schutz von Personen der Zeitgeschichte, Amtsträgern in Ausübung ihres Amtes oder Inhabern politischer Funktionen ausschließlich auf deren Privatsphäre zu begrenzen, muß nach Auffassung der Kammer das StUG geändert werden." Eine Novellierung des StUG und eine Klärung der mißverständlichen Passagen, auf die sich dieses Urteil bezieht, ist also geboten.

In verschiedenen Stellungnahmen haben Bürgerrechtler der ersten Stunde wie Sebastian Pflugbeil, Wolfgang Ullmann, Wolfgang Templin, Lutz Rathenow und andere Stellung zur "Causa Kohl" bezogen - denn "offene Akten" und "rigorose Aufklärung" gehörten zu den wichtigsten Forderungen der friedlichen Revolution 1989/90! Sie wiesen dabei auf einen wesentlichen Konfliktpunkt hin: "Aus der Kenntnis bisher offener Akten müssen die Westpolitiker befürchten, daß die langjährigen und engen Kooperationen und Geschäfte über die innerdeutsche Grenze hinweg bekannt werden. Wahrheiten, die nicht in das Selbstbild derer passen, die schon immer für die Revolution und die deutsche Einheit gekämpft haben wollen. Wahrheiten, die zu erfahren aber die Öffentlichkeit ein Recht hat." Und der Vorsitzende des Deutschen Journalisten-Verbandes warnte davor, daß "der Eindruck entstehe, daß Ostdeutsche und Westdeutsche im Zusammenhang mit dem StUG unterschiedlich behandelt werden."

Auch viele Wissenschaftler aus dem Bereich zeitgeschichtlicher Forschung wie der Direktor des Dresdner Hannah-Arendt-Instituts für Totalitarismusforschung Prof. Dr. Klaus-Dietmar Henke, Prof. Dr. Manfred Wilke vom Forschungsverband SED-Staat der FU Berlin und andere erklärten anläßlich des Urteils in der "Causa Kohl" in einem Offenen Brief an den Präsidenten des Deutschen Bundestages, daß die "grundlegenden Forschungen der letzten Jahre zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte neben der umfangreichen SED-Überlieferung wesentlich auf Materialien des MfS fußen" und die MfS-Aktenbestände deshalb für ein "umfassendes und kritisches Gesamtbild der SED-Diktatur unerläßlich" sind. Falls das Urteil bestätigt werden sollte, "droht eine einschneidende Beschränkung der zeithistorischen Forschung". Deshalb fordern auch die Wissenschaftler eine Novellierung des Stasi-Unterlagengesetzes, um die entsprechenden Passagen im Sinne der ursprünglichen Intention des Gesetzes (offene Akten, rigorose Aufarbeitung) zu präzisieren.

Die Würde der Ostdeutschen wiederherstellen

Unter diesen aktuellen Eindrücken betonte Marianne Birthler im fast vollbesetzten ehemaligen Kinosaal der Stasi-Bezirksverwaltung bei der Tagung am 12. Januar die große gesamtgesellschaftliche Bedeutung der MfS-Unterlagen. Unterstützt durch den Applaus der vielen anwesenden Bürgerrechtler sagte sie: "Die Akten sind eben auch deshalb wichtig, weil sie die Würde der Ostdeutschen wiederherstellen halfen, denn die meisten haben Nein gesagt, und das ist es, worauf wir stolz sind: Weniger als zwei Prozent der DDR-Bürger haben sich mit der Stasi gemein gemacht."

Akteneinsicht - das bedeutet eben auch wiedergewonnene Würde und die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal. Birthler: "Die Freiheit zu entscheiden, wie mit dem gewonnenen Wissen umgegangen wird, ist die wichtigste Voraussetzung dafür, Frieden zu finden und zu stiften." Sie sei deshalb genauso wie der Liedermacher Wolf Biermann davon überzeugt, daß die Zukunft nur in Kenntnis und im Streit um die Vergangenheit gestaltet werden kann.

Angesichts der aktuellen Beteiligung der SED-Nachfolgeorganisation PDS - und besonders Gregor Gysis - an der SPD-Regierung in Berlin erhält dies besondere Brisanz. Das Magazin Focus berichtete gerade letzte Woche erneut von Stasi-Vorwürfen gegen Gregor Gysi. Er soll 1987 als Rechtsanwalt den Inhalt DDR-kritischer Äußerungen eines Mandanten, des Schriftstellers Lutz Rathenow, bei einem Empfang an die Stasi weitergegeben haben. In einem Gutachten der "Gauck-Behörde" für den Deutschen Bundestag vom Mai 1995 über "die in der Behörde aufgefundenen Unterlagen, die mit Dr. Gregor Gysi in Zusammenhang stehen" wird über die Tätigkeit des Rechtsanwalts Dr. Gysi, der über einen Zeitraum von mehr als zehn Jahren für prominente Repräsentanten der "inneren Opposition" in der DDR tätig war, gesagt, daß er "für das MfS deswegen immer mehr zu einer wichtigen Person bei der ,Bekämpfung des politischen Untergrundes' in der DDR wurde". "Die aufgefundenen Unterlagen", so das Gutachten, "legen den Schluß nahe, daß Dr. Gysi als anwaltlicher Vertreter von oppositionellen Bürgern die Interessen des MfS mit durchsetzen half und mandantenbezogene Informationen an das MfS weitergab." Und es wird weiter festgestellt: "Trotz fehlender IM-Verpflichtung hat es eine besondere Art der Zusammenarbeit zwischen Dr. Gysi und der HA XX/9 gegeben. Insofern zeigt sich am speziellen Einzelfall eine weitere Facette der Arbeitsweise des MfS."

Bedenkenswert ist deshalb, was die Bürgerrechtlerin und jetzige Bundesbeauftragte Birthler zu der Notwendigkeit einer fortgesetzten historischen, politischen und juristischen Aufarbeitung der Tätigkeit des MfS in ihren Vorbemerkungen zu ihrem gerade veröffentlichten 5. Tätigkeitsbericht1 schreibt:

Marianne Birthler sieht wachsende Widerstände gegen diese Arbeit auch gerade deshalb, weil "Kräfte, die in ideologischer Kontinuität zur DDR stehen" sich "konsolidieren" und "in der öffentlichen Bewertung zunehmend akzeptiert" werden: "Die Verharmlosung von Menschenrechtsverletzungen durch kommunistische Diktaturen ist nicht nur in der ostdeutschen Gesellschaft, sondern auch in der westdeutschen Linken immer wieder spürbar." Bedenkenswert auch folgender Satz: "Daß im Laufe der Jahre Politiker aller Parteien der Zusammenarbeit mit dem MfS beschuldigt oder in einen Zusammenhang mit MfS-Aktivitäten gerückt worden sind, bewirkt gelegentlich Vorbehalte gegenüber der Behörde in den Parteizentralen." Und so ist es nicht verwunderlich, daß im Tätigkeitsbericht lapidar vermerkt wird: "Eher selten wird dagegen von Parteien die Möglichkeit genutzt, freiwillig ihre eigene Geschichte in bezug auf fragwürdige Kontakte zur SED und mögliche Zusammenarbeit ihrer Funktionäre mit dem Staatssicherheitsdienst zu prüfen."

Weil die Zukunft nicht ohne die Kenntnis der Vergangenheit gestaltet werden kann und die Vergangenheit auch schnell in Vergessenheit zu geraten droht, forderte Marianne Birthler in Leipzig - noch weit über die Arbeit ihrer Behörde hinausgehend und ganz im Gegensatz zu der leidigen Schlußstrichforderung, die übrigens nie von den Opfern einer Diktatur gestellt wird! - die Gründung einer europäischen Institution, die sich mit der Aufarbeitung des europäischen Kommunismus befassen soll.

Ihr Vorgänger Dr. Joachim Gauck reflektierte über die friedliche Revolution 1989/90: Wie den Bürgerrechtlern in Polen und den anderen Ostblockländern ging es der DDR-Bürgerrechtsbewegung nicht um einfachen Antikommunismus, sondern um die Wiederentdeckung der Rolle des Individuums! Auch aus diesem Grund sei das StUG ein Kulturgut, das man nicht ohne Grund beschädige. Man stelle sich die Forderung nach dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung in einer Diktatur vor! Es habe einen jahrelangen Konsens über den Umgang mit den Akten gegeben, sagte Gauck und stellte die Frage: "Sollen jetzt plötzlich Parteistrategen das Sagen haben?" Deutschland habe es nach 1945 schon einmal mit einem "Schlußstrichmodell" versucht, man habe verdrängt, vergessen und sich nur selektiv erinnert. Gegen diese Fehler der frühen Adenauerzeit setzte der Idealist und Urprotestant Gauck den "kathartischen Prozeß": eine "Reinigung", eine "Durchhellung", "offene Akten und offene Augen!"

"Wenn Machtfragen berührt werden..."

Reinhard Borgmann ist stellvertretender Chefredakteur des SFB-Magazins Kontraste und hat viel Erfahrung mit der medialen Aufarbeitung von Stasi-Unterlagen. Sein Vortrag über die "Erfordernisse für die journalistische Nutzung der Stasi-Akten" war durch die aktuellen Entwicklungen pessimistisch geprägt. Er sehe heute eine deutliche gesellschaftspolitische Umorientierung in der Auseinandersetzung mit dem Gesetz. Der "Kampf um die Definitionsmacht über das Gesetz" sei in vollem Gang, denn "wenn Machtfragen berührt werden, kommt man schnell an die Grenzen". Einen Grund nennt Borgmann: "Die Stasi-Aufarbeitung hat das ihr zustehende Indianerreservat des Ostens verlassen." Heute wäre ein solches Gesetz nicht mehr durchsetzbar, so Borgmann, der in den Entwicklungen des letzten Jahres eine Zäsur - "den Anfang vom Ende des Gesetzes" - sieht.

Der Historiker Dr. Clemens Vollnhals, der über die "Erfordernisse für die wissenschaftliche Nutzung der Stasi-Akten" referierte, betonte, daß das MfS-Archiv eben auch "ein Zentralarchiv der Opposition" sei und schon aus diesem Grund für die Forschung offen bleiben muß. Er warnte vor falsch verstandenem Datenschutz: "Die Geschichte der DDR läßt sich ohne die MfS-Unterlagen nicht schreiben."

Prof. Hartmut Weber, Präsident des Bundesarchivs in Koblenz, thematisierte die "Anonymisierung von Archivgut nach Paragraph 14 StUG" und stellte die Frage, ob dies einer "Aktenvernichtung von unten" gleichkäme. Paragraph 14 StUG sieht vor, daß ab 1. Januar 2003 Personen, die nicht Mitarbeiter des MfS waren, alle sie betreffenden Akten im Original (!) schwärzen lassen können. Dies betrifft also auch Amts- und Funktionsträger der SED-Diktatur, die nicht direkt MfS-Mitarbeiter waren. Weber stellte sich eindeutig auf die Seite der Bürgerrechtler und Bürgerkomitees, die sich für eine Streichung dieses Paragraphen einsetzen: Denn "anonymisierte Unterlagen sind manipulierte Unterlagen". Der SPD-Bundestagsabgeordnete Gunter Weißgerber pflichtete dem bei: "Ich kenne keine Opfer, die von sich aus eine Anonymisierung der Akten fordern."

Der freie Publizist Konrad Weiß, der 1989/90 als Gründungsmitglied der Bürgerbewegung "Demokratie Jetzt" die Arbeitsgruppe Medienpolitik am Zentralen Runden Tisch geleitet hat und danach Volkskammer- und Bundestagsabgeordneter war, warnte davor, daß der Rechtsstaat ganz schnell sein eigenes Fundament untergraben könne. Er zitierte Gerd Poppe, der noch vor der Verabschiedung des StUG im Bundestag gefordert hatte: "Alles muß ans Licht!" Weiß bezog Position, indem er an den "Historikerstreit" erinnerte und sich auf die Seite derjenigen stellte, die einen Vergleich zwischen der Nazi-Diktatur und der SED-Diktatur gegen viele Widerstände als durchaus zulässig betrachten. Prof. Dr. Klaus-Dieter Henke sprach sich in seinem leidenschaftlichen Plädoyer für die weitere rigorose Aufklärung aus, denn die zivilgesellschaftliche Decke sei außerordentlich dünn. Henke brachte das Beispiel der Bürgerrechtlerin Bärbel Bohley, die nach ihrer Akteneinsicht am 2. Januar 1991 davon sprach, sie habe die DDR bis zu diesem Tag der Akteneinsicht immer für reformierbar gehalten! Das Wissen über die Diktatur bewahrt vor der Verwandlung der Realität in Fiktion.

Aktuelle Zahlen aus der "Birthler-Behörde"

Auch die aktuellen Zahlen aus der "Birthler-Behörde", die am Rande der Konferenz verfügbar waren, machten die Notwendigkeit - und auch das große Interesse - an einer weiteren Aufklärung über die vielen Facetten der SED-Diktatur deutlich. Das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR hat im Auftrag der SED fast 40 Jahre lang Material über Millionen von Menschen, vor allem über Bürger ihres eigenen Staates, aber auch über Hunderttausende Westdeutsche und Ausländer gesammelt. Sechs Millionen Personen-Dossiers wurden angefertigt. Mit seinen zuletzt 91015 hauptamtlichen Mitarbeitern war das MfS im Verhältnis zur DDR-Bevölkerung der personalstärkste Sicherheitsapparat der Welt! Dazu kamen die rund 173000 inoffiziellen Mitarbeiter allein im Bereich der "Abwehr", die "Denunzianten neuen Typs" sozusagen - die für die "Aufklärung" tätigen IM sind damit noch nicht erfaßt. Erst die friedliche Revolution 1989/90 beendete die Tätigkeit dieses Unterdrückungs- und Überwachungsapparates.

In der heute hitzig geführten Debatte um den Konflikt zwischen dem Informationsinteresse der Öffentlichkeit und dem Anspruch des einzelnen auf den Schutz seines Persönlichkeitsrechts soll nicht vergessen werden, daß das am 29. Dezember 1991 in Kraft getretene Stasi-Unterlagen-Gesetz (StUG) an erster Stelle das Ziel hatte, jedem einzelnen die Möglichkeit zu geben, Einsicht in die zu seiner Person geführten Unterlagen zu nehmen.

Diese Möglichkeit wurde außerordentlich stark in Anspruch genommen: In den vergangenen zehn Jahren gingen insgesamt 4907267 (Stand: September 2001) Anträge auf Akteneinsicht bei der Behörde des Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen (BStU) ein, davon waren fast zwei Millionen Anträge direkt von Bürgerinnen und Bürgern gestellt worden, die restlichen bezogen sich auf Überprüfungen im öffentlichen Dienst, Anträge zu Rehabilitierung und Wiedergutmachung oder Forschungs- und Medienanträge. Und noch immer gehen monatlich 10000 Anträge auf Akteneinsicht bei der Behörde ein, davon sind die Hälfte Erstanträge!

Von den heute in der Behörde in Berlin und den 14 Außenstellen arbeitenden 2600 Beschäftigten werden insgesamt etwa 180 Akten-Kilometer Unterlagen verwahrt, darunter mehr als 39 Millionen Karteikarten, Hunderttausende Bild- und Tondokumente und knapp 15600 Säcke mit vom MfS in der Wendezeit zerrissenen Unterlagen. Von der Gesamtmenge des unzerstört gebliebenen Schriftgutes konnten nur rund 58 km in geordnetem Zustand aus den Archiven des MfS übernommen werden. Die Archivare standen und stehen also vor der Aufgabe, viele Kilometer Material neu zu erschließen und zu ordnen.

Mit Stand von November 2001 ist neben dem vom MfS archiviert übernommenen Aktenbestand etwa die Hälfte des ungeordnet hinterlassenen Schriftgutes wieder für Recherchen nutzbar. Von den zerrissenen, in Säcken vorgefundenen Unterlagen konnten seit Februar 1995 in mühsamer Kleinarbeit rund 480000 Seiten wieder zusammengefügt werden.

Natürlich sind die MfS-Unterlagen nicht die einzige Quelle zur Aufarbeitung der jüngsten deutschen Geschichte, aber aus diesen Akten des Spitzelapparates lassen sich viele Schrecken der SED-Diktatur authentisch rekonstruieren. Marianne Birthler konzentrierte sich in ihren Vorbemerkungen zum 5. Tätigkeitsbericht auf einen wesentlichen Punkt: "Über allen gut begründeten politischen Sinnzusammenhängen, in denen die Aufarbeitung der SED-Diktatur steht, darf die wichtigste Begründung nicht vergessen werden: die Verantwortung dafür, daß die Erinnerung an die Opfer der Diktatur, insbesondere an diejenigen, denen durch lange Haftstrafen oder psychische Folter Jahre, gar Jahrzehnte ihres Lebens gestohlen worden sind, nicht verblaßt. Ebenso wichtig ist es, der Schäden gewahr zu werden, die die SED-Diktatur über einzelne Schicksale hinaus bewirkt hat: das Verbrechen, ein Volk einzusperren oder das Verbrechen an Kultur und Zivilisation, wenn aus Schulen und Universitäten der freie Gedanke und das freie Wort verbannt werden."

Das Resümee der Tagung in Leipzig: Das StUG ist nicht nur ein Aufarbeitungsgesetz, es ist ein wertvolles Kulturgut, das die gesellschaftspolitische und individuelle Erforschung der jüngsten Vergangenheit authentisch ermöglicht. Die Zukunft des StUG ist offen. Neuer Gegenwind wird spürbar, seitdem deutlich wurde, daß die Erhaltung und Öffnung der Stasi-Unterlagen auch Auswirkungen auf die Gesellschaft im westlichen Teil Deutschlands hat. Der Gesetzgeber muß deshalb durch eine Novellierung des StUG Klarheit schaffen. Das Bürgerkomitee Leipzig e.V. hat einen konkreten Vorschlag zur Novellierung vorgelegt. Mißverständliche Passagen wurden darin im Sinne der ursprünglichen Intention des Gesetzes präzisiert. Das Gesetz - eine Sternstunde der Gesetzgebung und ein Vermächtnis der Revolution von 1989/90 - hat sich in den letzten zehn Jahren bewährt und muß erhalten bleiben.


Anmerkung:

1. Der Tätigkeitsbericht und der Wortlaut des StUG kann kostenlos bestellt werden bei:

Die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes
der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik Abteilung Bildung und Forschung
Postfach 218
D-10106 Berlin


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