Johann Joachim Becher (1635-1682) war als Arzt und Wirtschaftsberater tätig. 1635 in Speyer geboren, kam er 1657 nach Mainz, wo er Medizin studierte. Er stand in den Diensten verschiedener Fürsten und des damaligen römisch-deutschen Kaisers Leopold von Österreich. Becher arbeitete u.a. eng mit Gottfried Wilhelm Leibniz zusammen. Es wundert daher nicht, daß viele der Ideen Bechers stark an Lyndon LaRouches Wirtschaftskonzepte erinnern, der seinerseits auf dem Werk von Leibniz aufbaute.
Alexander Hartmann berichtet über seine Nachforschungen.
Als am 24. Oktober 1648 in Münster der Westfälische Friede unterzeichnet und mit ihm der Dreißigjährige Krieg beendet wurde, war Deutschland mit seinen Kräften am Ende. In den meisten Teilen des Landes war die Bevölkerung um mehr als ein Drittel gesunken, in der Pfalz, zwischen Main und Neckar und neckaraufwärts bis zur Donau, in Schlesien und zwischen Fulda und Magdeburg waren sogar mehr als zwei Drittel der Bevölkerung dem Krieg zum Opfer gefallen.
Während der Krieg das Reich und die Macht des Kaisers im Reich geschwächt hatte, kamen neue Mächte auf: Im Westen Frankreich, England und Holland, im Osten Rußland, im Südosten das Osmanische Reich. Innerhalb des Reiches wurde vor allem Brandenburg stark, aber auch Bayern, Sachsen, Württemberg, Braunschweig und Mecklenburg gewannen an Macht - sie waren nun souverän und durften ihre eigene Außenpolitik machen. Damit wurde Deutschland zum Land der Duodezfürsten: Das Land war in rund 360 einzelne Herrschaften und Fürstentümer aufgeteilt, die jeder für sich standen und dementsprechend schwach waren.
Trotzdem war der Westfälische Friede für alle ein Grund zur Freude. Für diesen Frieden war vor allem Frankreichs Minister Mazarin verantwortlich, der für den noch minderjährigen Ludwig XIV. die Regierung führte.
Im Jahr des Westfälischen Friedens bekam Mazarin einen jungen Mann als Mitarbeiter, der als einer der größten Ökonomen in die Geschichte eingehen sollte: den damals 29jährigen Jean Baptiste Colbert, der nach Mazarins Tod 1661 dem nunmehr selbst regierenden König Ludwig XIV. als Finanz- und Wirtschaftsminister - sein genauer Titel lautete "Generalkontrolleur der Finanzen" - diente.
Noch heute scheiden sich am "Colbertismus" die Geister: Während die Verfechter der Globalisierung unter diesem Begriff alles verteufeln, was an staatliche Eingriffe ins Wirtschaftsleben mit dem Ziel einer systematischen Stärkung der Produktivität der Volkswirtschaft auch nur erinnert, ist Colbert bis heute ein Vorbild für alle, die erkennen, daß ein wirtschaftlicher Wiederaufbau der Welt nur dann erfolgen kann, wenn der Staat genau solch eine Politik verfolgt.
Colbert schuf eine wirksame Staatsverwaltung, er ordnete die Staatsfinanzen, er sorgte für eine gleichmäßigere und gerechtere Besteuerung, und er schaffte die Binnenzölle weitgehend ab. Dann baute er durch gezielte staatliche Unterstützung in allen Teilen des Landes Industrien (Manufakturen) auf, und erleichterte durch die Verbesserung des Straßennetzes und große Infrastrukturprojekte wie den Kanal von Languedoc den Binnenhandel; das von ihm geplante Wasserstraßennetz wurde erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts fertiggestellt. Colbert errichtete Handels- und Kriegshäfen. Er vereinheitlichte das Rechtswesen. Er gründete 1663 die Akademie der Inschriften, 1666 die Akademie der Wissenschaften, 1667 die Akademie der bildenden Künste und 1672 die Akademie der Musik. Viele seiner Ideen wurden später von den deutschen "Merkantilisten" aufgegriffen.
Colbert hatte jedoch das Unglück, einem König zu dienen, dem zwar an einer starken Wirtschaft gelegen war, der diese jedoch vor allem als Grundlage zur Vergrößerung seines Herrschaftsgebiets betrachtete. Ludwig begann, sein Reich systematisch durch die Politik der "Reunionen" nach Norden und Westen auszuweiten. Auf diese Weise eignete er sich nach und nach große Teile Belgiens, Luxemburg, Lothringen, den Elsaß und Burgund an.
Der Grund für Ludwigs Erfolg war, daß Deutschland in Hunderte von kleinen und größeren Herrschaften aufgeteilt war, und jeder dieser Landesherren nur sein eigenes Interesse verfolgte. Der große Religionskrieg in Deutschland, der einen großen Teil der Bevölkerung dahingerafft hatte, lag noch keine 20 Jahre zurück.
Deshalb waren besonders die evangelischen Fürsten sehr zurückhaltend, was ein Bündnis mit dem Kaiser gegen Frankreich anging. Denn Frankreich hatte ihnen geholfen, sich vom Kaiser weitgehend unabhängig zu machen und vor allem die Freiheit ihres Glaubens zu erringen, obwohl natürlich, besonders links des Rheins, die Sorge nicht minder groß war, Frankreich könne sich nach Straßburg, Metz, Toul und Verdun zunächst auch der Bistümer Mainz, Trier und Köln sowie der Pfalz und dann mit den Stimmen dieser Kurfürstentümer auch des Kaiserthrons bemächtigen. Schon die Wahl des erst 18jährigen Leopold von Österreich zum römisch-deutschen Kaiser 1658 hatte sich um 15 Monate verzögert, weil Ludwig XIV. sich ebenfalls um die Kaiserkrone bewarb.
Einer der Verbündeten Mazarins bei der Durchsetzung des Friedens war der Mainzer Kurfürst gewesen, Erzbischof Johann Philipp von Schönborn. Seine Residenzstadt und ihre Universität sollten für den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands in den folgenden Jahrzehnten eine wichtige Rolle spielen. Dafür waren vor allem zwei Männer verantwortlich: Schönborns Leibarzt Ludwig von Hörnigk, Dekan der medizinischen Fakultät der Universität Mainz, und Johann Christoph von Boyneburg, Minister des Erzbischofs. Auch der kaiserliche Diplomat und spätere Kardinal Christoph de Royas y Spinola spielte dabei, wie wir gleich sehen werden, eine wichtige Rolle.
Die wichtigste Leistung dieser drei Männer besteht jedoch weniger in dem, was sie selbst in ihren Ämtern verrichtet haben, als vielmehr darin, daß sie eine Gruppe junger Menschen heranbildeten und förderten, die dann die eigentlichen geistigen Führer des Wiederaufbaus von Deutschland wurden. Und um diese "kurmainzische Jugendbewegung" geht es in diesem Bericht: Um Johann Joachim Becher, Philipp Wilhelm von Hörnigk und Gottfried Wilhelm Leibniz.
Johann Joachim Becher1 wurde 1635 in Speyer geboren. 1657 kam er nach Mainz, wo er als Schüler Ludwig von Hörnigks Medizin studierte und sich mit dessen fünf Jahre jüngeren Sohn Philipp Wilhelm anfreundete, dessen Schwester er 1662 heiratete. Nach kurzem Dienst an den Höfen von Mannheim und München als Arzt und Wirtschaftsberater der dortigen Fürsten folgte Becher 1666 dem älteren Hörnigk als Lehrer der Medizin an der Universität Mainz und als Leibarzt des Mainzer Kurfürsten und Erzbischof Johann Philipp von Schönborn. Er beriet aber, wie wir im folgenden sehen werden, Schönborn auch in anderen Fragen. Noch im gleichen Jahr wurde Becher von dem kaiserlichen Diplomaten Christoph de Royas y Spinola "abgeworben".
Spinola, ein Franziskaner aus Köln, war 1660 vom ersten Minister und Obersthofmeister des gerade 20jährigen Kaiser Leopolds I. als Beichtvater nach Wien berufen worden. Schon 1663 war Spinola in diplomatischer Mission in Mainz, um Unterstützung für den Kaiser bei der Abwehr der Türken zu werben. Anschließend ging Spinola im Auftrag des Mainzer Kurfürsten nach Spanien, um dort an Friedensverhandlungen teilzunehmen.
Schönborn gab Spinola einen Begleiter auf die Reise mit: den jungen Philipp Wilhelm von Hörnigk. Hörnigk blieb in den folgenden 17 Jahren in Spinolas Diensten, der zu jener Zeit an mehreren Projekten arbeitete, die allesamt den Zweck hatten, das nach dem Dreißigjährigen Krieg am Boden liegende Reich zu einigen und wirtschaftlich, militärisch und politisch zu stärken, um den Vormarsch Frankreichs und der Türken aufzuhalten.
Zu diesen Projekten gehörte auch die Idee, eine deutsch-ostindische Handelsgesellschaft zu gründen. Zu jener Zeit floß nämlich ein großer Teil der Wirtschaftskraft fast aller deutschen Fürstentümer ins Ausland ab - nach Frankreich, aber auch in die Niederlande und nach England. Insbesondere Holland und England besaßen faktisch ein Handelsmonopol für die später so genannten "Kolonialwaren", was zu einem gewaltigen "Handelsbilanzdefizit" führte, wie man es heute nennen würde. Aufgrund dieses Defizits fehlte es den deutschen Fürsten an Geld, mit dem man Truppen zur Verteidigung gegen Frankreich oder die Türken - oder auch gegen Österreich - hätte bezahlen können. Spinola schlug daher vor, eine gemeinsame Handelsgesellschaft der wichtigsten deutschen Fürsten zu gründen, sie so von den britischen und holländischen Handelshäusern wirtschaftlich unabhängig zu machen und durch das gemeinsame wirtschaftliche Interesse zu einigen.
Auch wenn Spinolas Projekt als solches nicht weiterkam, hatte es doch wenigstens eine positive Wirkung: Als Spinola 1665 dem Kurfürsten von Bayern die Idee der deutsch-ostindischen Handelsgesellschaft vorstellte, lernte er dessen Wirtschaftsberater kennen: Johann Joachim Becher, von dem er durch dessen Schwager und Schüler Hörnigk schon einiges gewußt haben muß. Becher befaßte sich zu jener Zeit bereits intensiv mit wirtschaftlichen Fragen. Er arbeitete von nun an eng mit Spinola zusammen.
Becher ging 1666 mit Spinola nach Wien, wo er zusammen mit dem jungen Hörnigk an dem Werk arbeitete, das bis heute als eines der Standardwerke des Merkantilismus gilt - sein Politischer Discurs. Der junge Hörnigk half seinem Schwager bei der Bearbeitung des Manuskripts. Das Werk erschien 1667, und es war ein Versuch, den erst 27jährigen Kaiser für eine andere Wirtschaftspolitik zu gewinnen. Becher eröffnet das Buch mit der Feststellung, daß der Staat für den Menschen da ist. Und er begründet das, in seinem alten Deutsch, so:
Eh ich den Anfang mache zu erweisen / worinnen das Auffnehmen eines Landes oder Stadt bestehe / muß ich nothwendig zuvor erinnern / daß der Mensch / als die Materie der Republick / ein Animal sociabile sei / und Gesellschafft suche / wie dann der Hl. Text selbsten sage / es ist nicht gut / daß der Mensch allein lebe... daß also nechst der Vernunfft / allein die Menschliche Gesellschafft / daß Menschliche Leben / von dem Viehischen unterscheidet / welche Gesellschafft einig und allein die Grundursach / Anfang / Mittel / und End aller Gesätze / und Ordnungen ist / welche die Menschen / so wol Heyden / als Christen / zu erhaltung dieser Gesellschafft gemacht haben.2
Nachdem er so dem Fürsten - in diesem Fall dem jungen Kaiser, dem das Buch gewidmet ist - das Ziel des Staates erklärt hat, folgen nun
die allgemeinen politischen Gesetze, wodurch Land und Leut bequem und gut regiert werden. Ehe ich aber solche zu beschreiben anfange, halte ich es für nötig, eine kurze Digression zu machen, und praeliminariter zu erweisen, wie und woher die Obrigkeit und Gesetze ihren Ursprung genommen haben, wie sie bestellt sein müssen, und wie weit sie sich erstrecken. Deshalb muß man wissen, daß die Obrigkeit und Gesetze allein vernünftige Menschen angehen und darum vorhanden sind, daß sie solche Menschen in dem Stand der Menschheit erhalten. Nun richtet sich der Stand der Menschheit nach seinem Ursprung und Schöpfer, welcher Gott ist, nach dessen Ebenbild der Mensch erschaffen ist.
Weil nun das Ebenbild Gottes in fünf Stücken besteht, nämlich in der vollkommenen Erkenntnis Gottes als seiner selbst, in der höchsten Ehre und Vollkommenheit, in der Allwissenheit, in der Allmächtigkeit und in einer ewigen Unvergänglichkeit, so folgt daraus, daß der Mensch, weil er nach dem Ebenbild Gottes erschaffen ist, auch ein Fünklein von diesen fünf Stücken haben müsse; nämlich er muß Gott erkennen, tugendhaft sein, etwas lernen und wissen, etwas haben und leben.
In diesen fünf Stücken bestehen nun nicht allein die Menschheit und deren Glückseligkeit, sondern die Gesetze der Natur selbst: Die Menschen wollen etwas glauben, eine Religion haben, tugendhaft sein und deswegen geehrt und geadelt werden, etwas lernen, studieren und wissen, etwas eigenes und ihre Nahrung haben, lang leben, und weil man ja sterben muß, sich vermehren und ihren Namen hinterlassen.3
Becher definiert hier also drei zusammengehörige Begriffe: die Menschheit, deren Glückseligkeit und ihre natürlichen Rechte. Und weil diese Rechte in der Natur des Menschen begründet sind, dürfen sie nicht mißachtet werden:
Dies sind die Gesetze der Natur. Man zwinge einen zu einer Religion, schneide ihm die Ehre ab, nehme ihm die Mittel, etwas zu lernen, beraube ihn seiner Nahrung, seines Lebens, seines Weibes oder seiner Kinder, so wird er sich auf das Äußerste wehren und sein Leben daran setzen, darum, daß dieses die natürlichen fünf Gesetze der Menschheit sind, welche allein glückselig machen und welche aus dem Ebenbild Gottes herrühren...
Diese fünferlei Gesetze und deren Untergebene nun zu regieren, nämlich die Menschen im Stand der Menschheit und natürlichen Gesetze zu erhalten, hat Gott die Obrigkeit eingesetzt... in diesen fünf Punkten besteht der Ursprung aller Gesetze und das Fundament der Obrigkeit und des Gehorsams, sowie des Stands der Obern und des Stands der Unterthanen...
Es ist deshalb gewiß, daß jede Superiorität und obrigkeitliche Gewalt, falls sie legitim, und nicht tyrannisch sein soll, aus den genannten Ursachen herrühre, nämlich, die Menschen in den Gesetzen und Schranken der Menschheit, wozu sie Gott erschaffen, zu erhalten oder hineinzubringen, und hierinnen sind alle Menschen schuldig zu folgen und gehorsam zu leisten...
Becher stellt sich hiermit, auch wenn er es nicht ausdrücklich sagt, in die Tradition des Kardinal Nikolaus von Kues. Dieser hatte 1433 in seiner Schrift De Concordantia Catholica geschrieben:
Von Anbeginn war den Menschen die Vernunft gegeben, was sie von den Tieren unterscheidet. Durch den Gebrauch der Vernunft wissen sie, daß es um ihrer Selbsterhaltung und zur Erfüllung des Zwecks der menschlichen Existenz willen nützlich ist, sich zusammenzuschließen und miteinander zu teilen. Deshalb haben sie sich aufgrund ihres natürlichen Instinkts zusammengeschlossen und Dörfer und Städte errichtet, in denen sie in Gemeinschaft leben. Wenn der Mensch nicht Regeln aufgestellt hätte, um den Frieden zu bewahren, würden die verdorbenen Wünsche Vieler diese durch Menschen gestiftete Gemeinschaft daran gehindert haben, das menschliche Leben zu verbessern...
Alle Gesetzgebung beruht auf dem Naturrecht, und ein Gesetz, das diesem widerspricht, kann nicht gültig sein. Da also das Naturrecht natürlicherweise auf der Vernunft beruht, wurzeln alle Gesetze ihrer Natur nach in der menschlichen Vernunft...
Was aber, wenn die Obrigkeit ihrer Aufgabe, den Menschen im Zustand der Menschheit zu erhalten, nicht gerecht wird? Dann besitzen die Menschen ein Widerstandsrecht! Bechers Argumente lesen sich wie eine Vorwegnahme der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung:
Wenn aber die Obrigkeit ihre Unterthanen zu sehr beschweren, zu anderer, falscher Religion zwingen, in Armut, Krieg und Unruh bringen - mit einem Wort: contra officium handeln - wollte, so sind die Unterthanen nicht schuldig, zu gehorchen, sondern sollen lieber von Haus und Hof gehen. Wenn man sie aber als Leibeigene etiam ad lucom zwingen und nicht hinweglassen wollte, so sollen sie alsdann, wenn sie sich nicht wehren können, dennoch dem Bösen nicht folgen, sondern viel lieber mit Gut und Blut solches leiden und als eine Strafe von Gott annehmen. Falls sie sich aber wehren können, mögen sie zwar solches tun, doch nicht weiter, als bis sie ihre Obrigkeit wieder von den bösen Absichten in ihr voriges Amt gebracht haben.
Becher warnt die Fürsten im politischen Diskurs:
Aus allem diesem nun ist leicht zu erachten, daß die Obrigkeit und Gesetze allein entsprungen sind aus dem Fundament, die Menschen wohl zu regieren und glückselig zu machen. Deshalb tun die Regenten über die Maßen übel - ja sie begeben sich all ihrer Gewalt - , welche nur ihrer Unterthanen wie Vieh zu ihrem Privatnutzen geniessen, aber an das Heil ihrer Untertanen - weder deren zeitliche noch ewige Wohlfahrt - nicht einmal gedenken, sondern sie noch davon abbringen, also verfolgen, aussaugen und pressen, daß sie in Gottlosigkeit, Verzweifelung, Armut und Elend geraten und endlich von Haus und Hof mit Weib und Kind laufen oder zuhause sterben und verderben müssen. Und obgleich manchesmal die Untertanen wegen zu grosser Gewalt ihrer Obern solches weder rächen noch strafen noch sich befreien können, so bleibt doch die ewige Strafe solchen Regenten nicht aus, und es kann den Seufzern und Tränen der armen Untertanen und ihrer Kinder, die sie gen Himmel schicken, der Weg nicht versperrt werden, sondern sie gehen hinauf, vermehren sich und fallen dann wie ein Platzregen und gewaltiger Hagel einmal unversehens auf dergleichen Regenten, daß sie zeitlich und ewig darunter untergehen...
Was Becher in seinem Diskurs prognostizierte, wurde rund 100 Jahre später Realität: Am 4. Juli 1776 erklärten die 13 Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unabhängigkeit. In ihrer Erklärung heißt es:
Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich: - Daß alle Menschen gleich geschaffen sind, daß sie von ihrem Schöpfer mit bestimmten unveräußerlichen Rechten geschaffen sind, - daß hierzu das Leben, die Freiheit und das Streben nach Glückseligkeit gehören, - daß, um diese Rechte zu sichern, Regierungen unter den Menschen eingesetzt sind, die ihre gerechte Macht von der Zustimmung der Regierten ableiten, - daß, wann immer eine Form der Regierung diesen Zweck vernichtet, es das Recht des Volkes ist, sie zu verändern oder abzuschaffen und ihre Macht in solcher Weise zu organisieren, wie es ihnen richtig erscheint, um ihre Sicherheit und Glückseligkeit mit größter Wahrscheinlichkeit zu schützen.
Und da die britische Kolonialpolitik "diesen Zweck vernichtete", erklärten die Vereinigten Staaten ihre Unabhängigkeit. Lyndon LaRouche hat wiederholt auf den wichtigen Unterschied zwischen der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, in der als Grundrechte das Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und das Recht auf Glückseligkeit aufgezählt werden, und der von dem "aufgeklärten" John Locke mitformulierten Verfassung der Sklavenhalterkolonie South Carolina hingewiesen, in der vom Recht auf Leben, auf Freiheit und auf Eigentum die Rede ist. Wie wir bereits gesehen haben, wurde dieser bemerkenswerte Begriff der Glückseligkeit von Becher nicht nur verwendet, sondern die Voraussetzungen für die Verwirklichung der Glückseligkeit präzise definiert.
Aber wie muß eine "Obrigkeit" organisiert sein, damit sie ihre Aufgabe, die "Menschen im Zustand der Menschheit" zu erhalten, erfüllen kann? Becher vergleicht zunächst die geistlichen und weltlichen, und unter diesen die monarchischen, die aristokratischen und die demokratischen Regierungen. Die beste Ordnung dieser Obrigkeit ist Becher zufolge diejenige,
...welche ein weltliches Haupt mit einem Erben zur Regierung habe, und daß diesem beigefügt werden Land-Stände, welche solches obligieren und in terminis & mutua obligatione halten; drittens, daß die Land-Stände dem gemeinen Land, Bürgern, Bauern und deren Ausschuß obligirt sind Rechnung zu geben und auf- und abgesetzt werden können. Denn dann fürchtet der Regent die Land-Stände, und diese müssen ein Aug auf die Unterthanen haben, diese hingegen müssen die Land-Stände, und solche die Regenten fürchten.
Man bedenke, daß Becher diese Forderung nach einer, wie man später sagte, konstitutionellen Regierung mehr als 100 Jahre vor der amerikanischen Revolution erhob! Auch hier steht er in der Tradition von Kues, der in De Concordantia Catholica erklärt hatte, die Autorität der Fürsten beruhe auf der Zustimmung der Regierten.
Es folgt ein Katalog von Ratschlägen an den Fürsten, die er bei seiner Regierung befolgen soll. Ein Beispiel:
damit aber auch ein Herr dieses alles wohl und füglich tun könne, muß er 6. seiner Untertanen Bereicherung und Begüterung mehr als die seinige selbst suchen. Viele Bauern kümmern sich fleißiger um ihr Vieh als selbst um ihre Kinder, weil sie samt ihren Kindern davon die Nahrung haben. Hingegen denken große Herren oft weniger an das Wohl ihrer Untertanen als die Bauern an ihr Vieh, was dann nicht allein bei den Unterthanen böses Blut schafft, sondern dem Herren selbst mehr schadet als nützt...
Grosser Herren Cameralisten meinen jetzt, wann nur die Kammergüter wohl stehen und die Contributionen richtig einkommen, so sei alles gut; die Untertanen hingegen meinen, wenn nur ihre Nahrung wohl geht, sei es egal, ob der gemeine Staat wohl oder übel steht. So ist gar keine Harmonie zwischen der Kammer und der Stube. Es ist deshalb sehr nötig, daß ein verständiger Regent solche verbindet und daran denkt, daß er tags in der Stuben, nachts aber in der Kammer sein muß, das heißt, daß er in Friedenszeiten von seinen Untertanen, im Krieg aber von seinen Mitteln leben und deswegen auf beide achten muß.
Becher schließt den ersten Teil seines politischen Diskurses mit dem Entwurf einer Polizeiordnung, den er ursprünglich für den Mainzer Kurfürsten und Erzbischof Johann Philipp von Schönborn verfaßt hatte. Diese Polizeiordnung enthält detaillierte Vorschriften über die Einrichtung eines geregelten Polizei- und Gerichtswesens, eine Marktordnung, Vorschriften für das Gesundheitswesen, Baupolizei und Feuerwehr und die Reinigung und Unterhaltung der Brunnen, also, wie wir heute sagen würden: die Infrastruktur, die die Voraussetzung für das Funktionieren einer Stadt ist. Aber es wird auch den Mitgliedern des Domkapitels und dem hohen Adel geboten,
... daß künftig bei Unserer und des Domcapitels Ungnade die Bürger und Einwohner dieser Stadt niemand molestiren, kränken oder beleidigen solle, und zwar der Gestalt, daß über sie außer Uns niemand zu gebieten haben soll als Unser Stadthalter, Vicedomus, und diejenigen, welchen wir solches anvertrauen. Wenn aber die Domherren und andere wider die Bürger und diese gegen sie einige action hätten, sollen sie solche gebührlicher Orten suchen und bei hoher Ungnad nicht selbst richten noch vindiciren... Auch sollen die von Adel sich bürgerlicher Geschäfte gänzlich enthalten oder die Bürgerlichen Lasten gleichermaßen tragen helfen, alles bei hoher Ungnad und Verlust der Waren, mit denen gehandelt wurde.
Bevor er seine wirtschaftspolitischen Vorschläge im einzelnen darlegt, analysiert Becher zunächst die Bedeutung der verschiedenen Sektoren der Wirtschaft. Zunächst unterscheidet er zwischen der Gemeinde und der Obrigkeit. Zu ihr zählen Becher zufolge "die Geistlichen, welche die Seele, die Gelehrten, welche das Gemüt, die Medici, Apotheker, Barbierer und Bader, welche die Gesundheit, die Soldaten, welche den Leib und die ganze Stadt und das Land verwahren." Wir würden diese Gruppen heute alle dem Dienstleistungssektor zuordnen. Becher erklärt dem jungen Kaiser:
...und wiewohl sie die societatem civilem vermehren und erhalten helfen, sind sie doch noch nicht die Gemeinde selbst, sondern, wie gesagt, nur Diener derselben, welche von der Gemeinde müssen besoldet und unterhalten werden, und darum, damit sie der Gemeinde nicht überlästig fallen, soll sich ihre Zahl nach der Gemeinde proportionieren, daß sie weder zuviel, noch zu wenig sind.
Lyndon LaRouche, der sich als Ökonom in die Tradition der "physischen Ökonomie" stellt und sich hier ausdrücklich auf Bechers Mitstreiter Gottfried Wilhelm Leibniz beruft, hat mit seinem LaRouche-Riemann-Modell gezeigt, daß eine Volkswirtschaft dem Niedergang geweiht ist, wenn der Bedarf des Dienstleistungssektors größer wird als die Profite der Realwirtschaft. Die Gesellschaft, von der Becher spricht und der die Obrigkeit dient, definiert er als eine "volckreiche nahrhaffte Gemein":
...und zwar, damit ich am ersten anfange, so muß eine Stadt sein volkreich. Denn so, wie eine Schwalbe keinen Sommer macht, also macht ein Mensch keine Gemeinde, noch ihrer drei oder vier Hausgesinde ein Dorf oder eine Stadt. Je volkreicher also eine Stadt ist, je mächtiger ist sie auch. Deshalb ist es leicht zu erachten, daß die vornehme Staats-Regel oder maxima einer Stadt oder eines Lands sein soll: volkreiche Nahrung.
Wie sehr unterscheidet sich dieser Ansatz von der Menschenfeindlichkeit der Malthusianer, die behaupten, die Welt sei überbevölkert, und man müsse das Wachstum der Menschheit reduzieren! Lyndon LaRouche stellt im Grunde die gleiche Forderung, wenn er feststellt, daß die Steigerung der "potentiellen relativen Bevölkerungsdichte" das Maß für den Fortschritt der Gesellschaft ist. Damit wird nicht nur die Bevölkerungsdichte als solche zum Kriterium gemacht, die ja z.B. in Flüchtlingslagern auch sehr groß, aber nicht groß auf Dauer sein kann, sondern die Fähigkeit, diese Bevölkerung in dieser Dichte auch auf Dauer - heute würde man sagen: nachhaltig - zu versorgen.
Eine höhere Bevölkerungsdichte erleichtert es auch, die Arbeit zu teilen und die Infrastruktur zu erhalten, die für eine höhere Produktivität pro Kopf notwendig ist. Auch diesen Gedanken finden wir bei Becher:
Die populierung und Volkreichmachung einer Stadt oder eines Lands ist jedoch nicht genug, wenn die Nahrung nicht dabei ist, denn damit eine volkreiche Versammlung bestehen kann, muß sie zu leben haben, ja eben dies letztere ist ein Anfang des ersten: die Nahrung, sage ich, ist eine Angel oder ein Köder, wodurch man die Leute herbei lockt, denn wenn sie wissen, wo sie zu leben haben, da laufen sie hin, und je mehr hin laufen, je mehr können auch von einander leben; und das ist die zweite fundamentale Staats-Regel, nämlich, um ein Land populos zu machen, demselben gute Verdienste und Nahrung zu verschaffen.
In den ostdeutschen Bundesländern haben wir im letzten Jahrzehnt gesehen, was geschieht, wenn diese Bedingungen nicht oder schlecht erfüllt sind: Dann wandern die Menschen ab. Den Menschen guten Verdienst und Nahrung zu verschaffen, schreibt Becher weiter, ist eine Frage der inneren Organisation der Gesellschaft:
So, wie nun die Volkreichmachung aus der Nahrung eines Orts quellet, so entspringet die Nahrung aus der Gemeinde; nämlich, daß die Leut eines Orts einander unter die Arme greifen und einer dem anderen durch gemeinen Handel und Wandel zu seinem Stück Brod verhelfe. Denn es bestehet die Gemeinde nicht darin, daß die Leute eines Orts nichts gemein haben als die Unglückseligkeit - sprich: Armut, Arbeit, Steuer, Auflagen und Contributionen - sondern dies ist die rechte Gemeinde, wenn die Glieder der Gemeinde ihre Sachen so anstellen, daß einer von dem anderen leben, einer von dem anderen sein Stück Brot verdienen kann, ja, einer dem anderen die Nahrung in die Hand spielet; das ist die rechte Gemeinde, denn dadurch entstehet die Nahrung, und durch die Nahrung wird ein Ort populos. Die Gemeinde ist also die dritte, ja die größte Staatsregel, denn wo diese wohl stehet, da wird es an Nahrung und an Menschen nicht fehlen.
Auch unsere Zeit täte gut daran, diese Forderung zu beherzigen, daß der einzelne dem Gemeinwohl dienen soll. Die Vertreter des "amerikanischen Systems der politischen Ökonomie" prägten im 19. Jahrhundert hierfür den Begriff der "Harmony of Interests". Becher wählt ein ganz ähnliches Bild:
Wenn aber diese verstimmt ist, so kann auch kein guter Ton sein, nichts als Haß, Feindschaft, Verfolgung, Unterdrückung der Armen, Erhebung der Reichen, Rebellion, Verderb und endlich Verarmung und gänzlicher Ruin werden daraus erfolgen. So, wie leicht zu erachten, wenn einer auf einer Geige streichen will, er zuvor jede Saite considerieren und stimmen muß, so muß man ebenso, wenn eine Civilgemeinde ihrer Nahrung versichert sein soll, gewißlich auf jede Art von Menschen, die darin sein, wohl Achtung geben, und es kommt mir nichts wunderlicher vor, als daß man auf diese allerschwersten Puncte vieler Orten so gar keine Acht gibt, und einen jeden sich ernähren läßt, wie er kann, es gerate ihm, wie es wolle, er verderbe und mache hundert andere auch verderben, oder er komme auf zum Nutzen oder Schaden, Auf- oder Abnehmen der Gemeinde, so fragt man nicht danach.
Harmonie bedeutet nicht nur, daß alle Teile der Gesellschaft in Frieden miteinander leben, es bedeutet auch, daß sie im richtigen Verhältnis zueinander leben. Dies ist durchaus quantitativ gedacht, wie wir bei der Forderung, daß die "Obrigkeit... nicht zuviel / noch zu wenig seyn" soll, bereits gesehen haben. Das gilt genauso für die übrigen Sektoren der Wirtschaft.
Neben der Obrigkeit unterscheidet Becher drei Stände innerhalb der Gemeinde: die Bauern, die Handwerker und die Kaufleute. Bechers Definition dieser Stände unterscheidet sich jedoch inhaltlich von den heutigen Begriffen der Landwirtschaft, Industrie und Handel. Zu den "Bauern" zählt Becher zufolge beispielsweise auch der Bergbau. Warum? Weil er Grundstoffe liefert, die in der Regel noch weiter verarbeitet werden müssen.
Auch der Bechersche Begriff des Handwerks entspricht weder ganz dem heutigen Begriffs des Handwerks (obwohl er dieses mit umfaßt), noch ganz dem der heutigen Industrie: Er umfaßt alle, die aus den Rohstoffen, die die Bauern liefern, Fertigwaren herstellen, die dann von den Kaufleuten vertrieben werden. Und er spricht hier nicht von Firmen, sondern von Individuen, die für ihr Handeln verantwortlich sind. Besonders interessant ist jedoch Bechers Unterscheidung zwischen den verschiedenen Arten von Kaufleuten. Die einen schätzt Becher sehr hoch ein. Er nennt sie die Verleger:
Durch das Wort Verlegen aber verstehe ich, wenn ein Mann den Handwerksleuten Mittel macht, daß sie in dem Land fallende oder aus der Fremde hereingebrachte rohe Waren in manufacturen [d.h. Fertigwaren] verarbeiten können, und dann ein solcher Verleger die gemachten manufacturen von ihm wieder um ein billiges Geld nimmt und hernach anderwärts, so gut er kann, in oder außer Lands verhandelt...
Aber es gibt auch eine andere Art von Kaufleuten, auf die Becher nicht gut zu sprechen ist:
aber diese Kaufleute, von welchen eher ein Papagei, Hund oder Pferd als ein einziger Mensch oder Untertan leben kann, welche lieber die rohen Waren aus dem Land führen, in der Fremde verarbeiten lassen und dann wieder herein bringen, also lieber den Fremden als den Inländern das Geld gönnen; oder die, welches das gemeinste ist, jährlich viele Hunderttausend in fremde Länder schicken, fremder Leute Untertanen reich und vermögend, hingegen ihres Landesfürsten Untertanen arm machen, das Geld hinaus schicken und nichtswertige oder solche manufacturen dafür herein bringen, die man selber im Land haben kann, und zum wenigsten den Einwohnern und Bettlern, deren das ganze Land volläuft, das Stücklein Brot gönnen können; welche allein auf ihren Profit sehen, das Land schinden, schaben und aussaugen... und nicht allein des Landes Untertanen in keine Arbeit stellen und ihres Gewinns genießen lassen, sondern ihre Mitbürger und Nebenhandelsleute verderben, ja wie bissige Hunde allein an dem Knochen nagen wollen, des Landsmanns und Handwerksmanns blutigen Schweiß aussaugen, und, so man ihnen ein böses Wort gibt oder sich die Zeiten nur ein wenig ändern und bös anlassen, oder ein Feind auf 50 Meilen vor der Tür ist, drohen und mit ihrem geschundenen Mammon hinweg laufen und die arme Leut allein leiden lassen: Dies sind die Blut- und Saugigel einer Republik, der Tod und Untergang und derselben Ende, denn sie mindern die populosität und entziehen dem Land die Nahrung, bereichern dessen Feind und tragen keine Scheu, um ihres Nutzens willen dasselbe seinen Feinden zu verraten und zu verkaufen; sie sind die Mietlinge und nicht die rechten Hirten, gefährliche Leute in der Republik, welche umso größeren Fortschritt haben, je weniger man auf dieselben Achtung gibt, ja, je mehr solche bei den Staatspersonen Zugang haben...
Man sieht sofort, daß viele unserer heutigen sogenannten Industriekonzerne tatsächlich viel mehr in diese letztere Gruppe von Kaufleuten gehören, als zu den "Handwerkern". Oder sprach Herr Becher hier von der Firma Wal-Mart, die berüchtigt dafür ist, daß sie ihre Lieferanten unter Druck setzt, in Billiglohnländern zu produzieren?
Aber ein Gemeinwesen braucht, wie gesagt, nicht nur diese vier Stände, die sich in ihrem Handeln am gemeinsamen Wohl orientieren, sie müssen auch quantitativ in einem angemessenen - eben harmonischen - Verhältnis zueinander stehen:
Wiewohl nun diese Stände einander so nah verwand sind, daß einer ohne den andern nicht bestehen kann, so sind sie gleichwohl in diesem voneinander verschieden, daß sie sich nicht untereinander vermischen lassen, sondern ihre Proportion gegeneinander haben wollen, denn es würde nicht bestehen können, wenn in einem Land mehr Kaufleute als Handwerksleute und mehr Handwerksleute als Bauren wären... weil nämlich ein Kaufmann mehr verkaufen kann, als hundert Handwerksleute machen, und ein Handwerksmann verarbeiten kann, was hundert Bauren Material zur Arbeit bringen können... wo kein Bauer ist, da hat der Handwerksmann nichts zu verarbeiten, und wo nichts gearbeitetes da ist, da kann auch der Kaufmann nichts verkaufen...
Becher schreibt dann von den "drey Hindernussen und Hauptfeinden voriger dreyer Standen / nämlich dem Monopolio, Polypolio und Propolio". Betrachten wir die Begriffe im einzelnen. Der Begriff des Monopols ist auch heute noch geläufig. Was aber ist unter einem Polypolium zu verstehen?
Wenn ein Schuster in Wien wäre, und es könnten doch ihrer 50 sich darinnen ernähren, so beging dieser Schuster ein Monopolium, denn er triebe 49 Menschen aus der Gemeinde und schwächte sie an der Populosität. Wenn hingegen 50 Schuster in der Gemeinde ehrlich, mittelmäßig und eben bürgerlich leben könnten, und man liesse zu, daß noch 150 Schuster dazu kämen, so wäre kein Zweifel, daß das Handwerk überhäuft wäre, und es würden nicht allein die vorigen 50, sondern auch die dazu gekommenen 150 miteinander verderben.
Um ein solches Überangebot oder "Polypolium" von Produktionskapazitäten zu vermeiden, wurden im Mittelalter die Zünfte eingeführt. Aber sie nutzten ihre Macht in den Städten bald dazu, ein Unterangebot zu schaffen, um durch die Verknappung desto bessere Preise durchzusetzen - auf Kosten des Gemeinwohls. Denn diese Unterproduktion reduziert die Nachfrage nach Rohstoffen, und schädigt so die "Bauern", und sie bewirkt, daß der Gemeinde weniger Produkte zur Verfügung stehen als sie bräuchte. Außerdem entzieht sie der Gemeinde die Kaufkraft. Das Polypolium und das Propolium wirken analog, aber sie schädigen andere Bevölkerungsschichten:
Dieses heimliche Monopolium aufzuheben, haben die Holländer alle Zünfte kassiert und das Polypolium zugelassen, dergestalt, daß jedem frei stehet sich zu ernähren wie er kann, weswegen dort ein großer Zulauf von Menschen ist, und sich die Handwerksleute wegen ihrer großen Menge um die Arbeit reißen... Dieses zugelassene Polypolium in den Handwerken ist nun den Kaufleuten und Verlegern ein gemachtes Spiel, denn dadurch erhalten sie den Handwerksmann in steter Armut und Arbeit, denn ihre Menge macht, daß sie fleißig und wohlfeil arbeiten und die Leute befördern, ja, der Arbeit nachlaufen und mit aller ihrer Mühe dennoch kaum ein Stück Brot verdienen können. Beides aber ist unbillig.
Wir sehen also, daß das "reiche" Holland tatsächlich sehr viel Armut kannte, wohl vergleichbar mit der verbreiteten Armut beispielsweise in den "reichen" Vereinigten Staaten oder in Großbritannien.
Das dritte Hindernis für eine "volkreiche nahrhafte Gemeinde" ist as Propolium, worunter Becher versteht, daß Marktteilnehmer am Markt vorbei handeln, hierdurch das Angebot auf dem Markt schmälern und so die Harmonie der Interessen - das Gemeinwohl - beeinträchtigen.
Als Instrument zur Sicherung der Harmonie der Interessen, also des Gemeinwohls, empfiehlt Becher neben der Einrichtung staatlicher Banken die Bildung von Societäten, Zusammenschlüsse von Kaufleuten zum Betrieb von Kaufhäusern und Provianthäusern, die dazu dienen, den Markt im Sinn des Gemeinwohls zu regulieren. Auf diese Weise sollen den Produzenten wie den Konsumenten dauerhaft faire Preise gesichert und Anlagemöglichkeiten für privates Kapital geschaffen werden. Zu diesem Zweck sollen die einheimischen Kaufleute (unter staatlicher Aufsicht) Handelsgesellschaften bilden, an denen sich jeder beteiligen darf. Das Kaufhaus soll seine Waren direkt von den Produzenten beziehen, also ohne Zwischenhandel, um diesen gute Preise zu sichern und so die Produzenten im eigenen Land zu fördern und den Kapitalabfluß aus dem Land zu minimieren.
Dem gleichen Zweck dient das im Politischen Discurs geforderte Land- und Stadtmagazin oder Provianthaus, das regelmäßig die Überschüsse vom Markt kaufen und dadurch eine gleichmäßige Versorgung mit Nahrungsmitteln und anderen notwendigen Dingen sowie dauerhaft günstige Preise sicherstellen soll, um so die Existenz der Bauern und der übrigen Konsumenten zu sichern. Dieses Vorgehen war z.B. in der Europäischen Union bis in unsere Zeit üblich, bevor die Ideologen des Freihandels, die im Gemeinwohl ein Hindernis für ihre Interessen sahen, aus "Kostengründen" die Abschaffung der Vorratshaltung durchsetzten.
Diese Gedanken entwickelte Becher bereits, bevor er mit Spinola nach Wien ging. Für den Kurfürsten von Bayern verfaßte er ein "unvorgreiffliches Bedencken / wegen der Auffnehmung der Commercien=Sachen / und des darauff beruhenden Chur=Fürstlichen Interesse", das hochinteressante Vorschläge hinsichtlich des Währungs-, Kredit- und Bildungswesens enthält.
So schlägt Becher vor, den Umtausch von Devisen mit fünf Prozent zu besteuern, um die ausländischen Kaufleute dazu zu veranlassen, das durch den Import ihrer Waren erlöste Geld im Land zu lassen und statt dessen Waren aus dem Land auszuführen. Um dies sicherzustellen, soll der Export der Landeswährung untersagt und eine "Landsfürstliche Wexelbanck" - eine Art Zentralbank - eingerichtet werden, in der der Umtausch stattfindet und die Wechselsteuer erhoben wird. Die Wechselbank dient gleichzeitig der Kontrolle des Devisenhandels, denn im eigenen Land soll Becher zufolge nur in der Landeswährung gehandelt werden.
Becher schlägt auch die Gründung einer "allgemeinen Landtbanck" vor, in die "jeder im Land, wer nur will, ja so viel nur wollen, jeder ohne Nachtheil oder Schaden des andern noch des Landsfürstl. Interesse" investieren können solle. Als Vorbild dieses Vorläufers der Stadtsparkassen verweist Becher auf die montes pietatis, die es seit der frühen Renaissance in Italien - in Florenz z.B. - gab. Sie dienen ausdrücklich dem Ziel, Zinswucher zu unterbinden.
Bechers Idee der Societäten wurde schon vier Jahre später, 1671, von dem damals 25jährigen Gottfried Wilhelm Leibniz - der übrigens 1766, also genau zu jener Zeit nach Mainz kam, als Becher und Hörnigk mit Spinola nach Wien gingen - in seiner berühmten Schrift Societät und Wirtschaft aufgegriffen. Darin schlug Leibniz vor, wissenschaftliche Societäten zu gründen, um neue Erkenntnisse und Technologien zu entwickeln und zur Anwendung zu bringen. Dieser Vorschlag wurde später durch die Gründung der Akademien der Wissenschaften in Preußen und Rußland realisiert - aber nur zum Teil, denn Leibniz' Societät ist etwas weit Umfassenderes: Ihr Hauptzweck lag nicht so sehr darin, den Fortschritt der Wissenschaft als solchen zu fördern, sondern, als Motor der Entwicklung der Gesellschaft zu wirken, sowohl durch den Fortschritt der Wissenschaften als auch durch den "Technologietransfer" zwischen der Wissenschaft und der Gesellschaft als ganzer. Die Erlöse des Einsatzes der entwickelten Technologien sollten dabei die Mittel für weitere Fortschritte liefern. Leibniz stand seit jener Zeit im Briefkontakt mit Becher (und spätestens ab 1679 auch mit Hörnigk).
Becher konzentrierte sich in seiner Arbeit vor allem darauf, die schon bekannten technischen Verfahren für Deutschland nutzbar zu machen. Dazu studierte er intensiv zahlreiche Bereiche der Wissenschaft, insbesondere die Chemie und den Bergbau, worüber er auch mehrere Bücher schrieb, z.B. 1669 die Physica subterranea, 1682 den Chemischen Glückshafen, eine Zusammenstellung und Beschreibung von 1500 chemischen Verfahren.
Becher war, was Fragen der Technologie anging, eine unbestrittene Autorität zu seiner Zeit. Er galt zu seiner Zeit als einer der führenden Experten für den Bergbau schlechthin, und führte die Steinkohleverkokung und die Gewinnung des Steinkohlenteers ein. Becher war einer der ersten Chemiker, der den Mystizismus der Alchemie überwand, und begann, durch wissenschaftliche Hypothesen nutzbare Erkenntnisse zu sammeln, und zu veröffentlichen. Außerdem trug er dazu bei, die Kartoffel als landwirtschaftliche Nutzpflanze durchzusetzen.
Um diese neuen Verfahren zu nutzen, brauchte man geeignete Arbeitskräfte, und Becher war mehrfach im Ausland - vor allem in Holland - um qualifizierte Facharbeiter zu rekrutieren, die neue oder jedenfalls bisher nicht in Deutschland oder Österreich angewendete Produktionsverfahren beherrschten. Sie sollten nicht nur durch eine einheimische Produktion den Kapitalabfluß ins Ausland stoppen, sondern vor allem einheimische Arbeitskräfte mit diesen Technologien vertraut machen.
Eine Schlüsselrolle spielte dabei das sogenannte Werkhaus. Der Unterschied zu den traditionellen Arbeitshäusern für Bettler und Landstreicher lag eben in der verwendeten Technologie: Das Werkhaus war vor allem eine Qualifizierungsstätte, und es sollte seine Absolventen auf Dauer zu nützlichen und zufriedenen Gliedern der Gesellschaft machen.
Das auf Bechers Vorschlag und unter seiner Leitung errichtete Kunst- und Werkhaus auf dem Tabor zeigt, was Becher damit im Auge hatte. Es enthält Werkstätten und Laboratorien zur Erzeugung von Majolika, eine Zeugweberei, eine Apotheke, ein Schmiede- und Schmelzofen, eine Goldschmiedewerkstatt, eine Tischlerei, eine Uhrmacherei, eine Bandmühle und eine Weberei. Leider wurde es bereits wenige Jahre später zerstört, als die Türken 1683 Wien belagerten.
Becher wurde vom Kaiser beauftragt, das Werkhaus zu realisieren. Dabei unterstand er Graf von Sinzendorff, dem Vorsitzenden des Consilio Commerciorum. Zunächst galt es jedoch, sich einen Überblick über den tatsächlichen Zustand der Realwirtschaft zu verschaffen, denn niemand wußte genau, wieviele Produktionskapazitäten es eigentlich gab. Philipp Wilhelm von Hörnigk, der schon 1666 am Politischen Discurs mitgearbeitet hatte, wurde auf eine Rundreise geschickt, die ihn ein halbes Jahr lang durch 92 Städte und 16 Märkte in den Erblanden der Habsburger - Ober- und Niederösterreich, Innerösterreich (Steiermark, Kärnten und das heutige Slowenien), Schlesien, Böhmen, Mähren und die Grafschaft Glatz führte.
Aber offenbar war man nicht überall begeistert über diese Initiative der Kommerzkammer: "Am 30. Dezember wurde er [von Hörnigk] bei Mährisch-Trübau als der Spionage verdächtig angehalten; man nahm ihm seine von der österreichischen Hofkanzlei und der Wiener Hofkammer ausgestellten Pässe ab, so daß ihm nur die Rückkehr nach Wien übrigblieb", berichtet Gustav Otruba in seinem Aufsatz Philipp Wilhelm von Hörnigk - Leben und Werk.4 Es roch nach einer politischen Intrige.
Trotzdem war die Reise ein Erfolg: Erstmals war es möglich, die realwirtschaftliche Wirtschaftskraft des Habsburgerreiches einigermaßen genau einzuschätzen. Becher verfaßte aufgrund der statistischen Erhebungen Hörnigks einen umfassenden Bericht an den Kaiser, an dessen Ausarbeitung auch Spinola und Sinzendorf beteiligt waren. Die Reise hatte nachgewiesen, daß Österreich auf viele Importprodukte verzichten konnte. 1674 wurde der Import französischer Manufacturen in die kaiserlichen Erblande, 1676 durch ein Reichsedikt verboten.
Becher ging nun daran, das Werkhaus zu realisieren. Es erwies sich aber als unmöglich, ein Produktionsunternehmen aufzubauen und gleichzeitig mit allen möglichen wirtschaftspolitischen Aufträgen durch Europa zu reisen. Er bekam zwar Kapital angewiesen, aber die bürokratischen Hindernisse, der Mangel an Unterstützung und die Fehlschläge bei der Anwerbung von Geldgebern und Arbeitern führten zum Scheitern des Projekts. Schon 1677 ließ ihn Sinzendorf fallen, und warf ihm vor, er habe "von der Commission Privatnutzen gehabt". Auf eine Mission nach Holland geschickt, hielt es Becher für sicherer, nicht nach Wien zurückzukehren, zumal der Bankrott des Werkhauses abzusehen war. 1679, nachdem das Reichsedikt gegen französische Waren durch den Frieden von Nimwegen - bei dem Spinola den Kaiser als Unterhändler vertreten hatte - aufgehoben wurde und damit der Versuch, eine eigenständige Produktion in Wien aufzubauen, durch die billige Konkurrenz gänzlich unmöglich gemacht wurde, ging Becher nach England, wo er 1682, nicht einmal 48jährig, starb. Ein Jahr später wurde sein Werkhaus von den Türken zerstört.
Bechers Mitstreiter Hörnigk, Spinola und Leibniz setzten jedoch ihren Einsatz für die Stärkung Deutschlands fort. Hörnigk wechselte nun die Strategie: Wenn "das Reich" nicht bereit war, Österreich zu unterstützen, dann mußte Österreich stärker werden. Das Ergebnis ist seine Schrift: Österreich über alles, wenn es nur will. Seine Empfehlung: Die wirtschaftliche Einigung, die im Reich derzeit unmöglich ist, sei in den Habsburgischen Erblanden sehr leicht möglich, weil alle 52 Staaten dem gleichen Herrscher unterstehen. Österreich habe in diesem Wirtschaftsraum genug Ressourcen, um sich aus eigener Kraft zu helfen, wenn dieser Wirtschaftsraum entwickelt werde. In dieser Kampfschrift nimmt er seinen gescheiterten Schwager Becher posthum in Schutz:
Behüte uns Gott, wird mancher sagen, für dergleichen Schreiern und Commercien-Predigern, Reichmachern des Kaisers und der Länder! Es seynd deren bei zwanzig Jahren her wohl mehr bei uns aufgestanden, so nach dem bei der Maut am roten Turm zu Wien laufigem Sprichwort, dennoch am End nichts als einen leeren Becher zur Welt gebracht. Ich antworte: Es kann sein, aber der Handel ist damit noch nicht ausgemacht, ob der Mangel mehr an ihnen oder an andern gewesen. Niemand kann in Abrede sein, ihre Vorschläg waren in der Tat vernunftmäßig, ihre Gründe waren gut, solches zeigen die Orte im Reich, wo sich zeither die Manufacturen regen. Warum folgen wir nicht auch? Sie haben sedem et radicem morbi entdeckt. Warum tut man nicht zur Kur? Ihre Propositiones waren auf die klare Vernunft, unumstößliche Reguln der gemeinen Wirtschaft und das Exempel anderer Nationen befestigt. Warum hat man sie nicht ergriffen?... Der Unterschied zwischen ihnen und anderen ware, daß sie sich pro Publico mehr unterfiengen, als sie vermöchten, andere aber weniger dazu taten, als ihnen gebührte... Zu dem, wan ich die rechte Wahrheit sagen soll, schriee etwan einer für die inländische Commercien, so schrieen zehn andere dagegen... Sie nehmen ihr ganzes Leben lang nicht die Mühe, sich und ihre Handlung zu untersuchen, ob sie dem gemeinen Wesen zu Nutzen oder Schaden laufen, seind auch nicht capabeles, solches zu unterscheiden, will geschweigen gesonnen, es zu verbessern, viel weniger werden sie von Obrigkeit wegen dazu und zu Erkänntnus und Würkung ihres eigenen Bestens angewiesen.4
Hörnigks weitere Karriere war zwar nicht sehr auffällig - er blieb Sekretär Lambergs, der 1686 zum österreichischen Gesandten beim deutschen Reichstag in Regensburg und 1689 zum Fürstbischof von Passau ernannt wurde, und war auch nach Lambergs Tod 1712 Sekretär von dessen Nachfolger, bis er selbst 1714 starb - aber sein Buch hatte nachhaltige Wirkung. Es erlebte in den folgenden 100 Jahren 16 Auflagen, und wurde, nicht zuletzt unter dem Einfluß des Leibnizfreundes Prinz Eugen, mehr und mehr zur Grundlage der österreichischen Wirtschaftspolitik, was dazu führte, daß Österreich, wie Hörnigk richtig vorhergesagt hatte, im 18. Jahrhundert eine Großmacht wurde.
Bechers Traum, Deutschland wirtschaftlich und politisch zu einigen, wurde erst im 19. Jahrhundert verwirklicht, und auch hier spielte ein Vertreter der "physikalischen Ökonomie" eine zentrale Rolle: Friedrich List, der Vater des deutschen Zollvereins und des gesamtdeutschen Eisenbahnnetzes.
Anmerkungen
1. Die biographischen Angaben in diesem Artikel stammen zum großen Teil aus: Ingo Andruchowitz, P.W. v. Hörnigk: "Österreich über alles, wann es nur will", in: Michael Benedikt et al., Verdrängter Humanismus - Verzögerte Aufklärung, Bd. 1 (2): Die Philosophie in Österreich zwischen Reformation und Aufklärung (1650-1750) Die Stärke des Barock, Verlag Leben - Kunst - Wissenschaft, Editura Triade, Klausen-Leopoldsdorf, 1997.
2. Alle Zitate aus Bechers "politischem Discurs" sind zitiert nach: D. Johann Joachim Bechers von Speyer / Röm. Kayserl. Majestät Commercien-Raths / Politische Discurs... Dritte Edition... Frankfurt / in Verlegung Johann David Zunners / 1688, (Unveränderter Neudruck Verlag Detlev Auvermann, Glashütten im Taunus, 1972)
3. Da dieses altertümliche Deutsch auf Dauer etwas ermüdend ist, und im folgenden noch etliche Zitate aus dieser Schrift folgen, habe ich sie im Folgenden in der Regel etwas dem heutigen Sprachgebrauch angepaßt.
4. Philipp Wilhelm von Hörnigk, Österreich über alles, wenn es nur will, Hg. von Gustav Otruba, Oberland-Verlag, Wien 1964.
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