Im Rahmen der europäischen Sommer-Akademie des Schiller-Instituts in Oberwesel hielt Helga Zepp-LaRouche am 25. Juli 1998 eine Rede, die wir im folgenden veröffentlichen. Der Redetext ist aus dem Englischen übersetzt und leicht gekürzt.
Im Bild ist das Buch, das nach der Wende veröffentlicht wurde, in dem der Dilettantismus von Politikern, die Unterwürfigkeit und Feigheit gegenüber Sanktionen und die massiven Einschüchterungen von Macht- und Geopolitikern dokumentiert wird.
"Wie hätte ich anstelle des deutschen Bundeskanzlers damals gehandelt? Über die ehrliche Beantwortung dieser entscheidenden Frage sollten Sie nachdenken, denn die Frage lautet eigentlich: Habe ich in mir selbst die Fähigkeit, die Geschichte wirksam positiv zu verändern?"
"Am 12. Oktober 1988 sagte LaRouche im Berliner Hotel Kempinski, es werde nicht mehr lange dauern, bis die Frage der deutschen Wiedervereinigung aktuell würde. Er schlug vor, ein vereinigtes Deutschland, mit Berlin als Hauptstadt, solle Polen mit westlicher Technologie wirtschaftlich modernisieren - als "Modell" für den ganzen Ostblock."
"Im Juli 1989 besucht Kanzleramtschef Seiters Ost-Berlin und bei den Gesprächen u.a. mit hohen Stasi-Offiziellen wird ihm klar, daß die DDR kurz vor dem Staatsbankrott steht. Spätestens zu diesem Zeitpunkt hätten im Bonner Bundeskanzleramt die Vorbereitungen für den ,Ernstfall' anlaufen müssen - doch genau das passierte nicht."
"Am 21. November 1989 trifft Teltschik mit Portugalow zusammen, der ,auskundschaften soll, wie die Bonner Regierungszentrale über die Wiedervereinigung denkt'. In diesem Moment wird Teltschik ,schlagartig klar, daß in der sowjetischen Führung die Überlegungen zur deutschen Einheit schon viel weiter gediehen sind, als die Beamten im Bundeskanzleramt vermuten.' Erst dann beginnen die Vorbereitungen für das Zehn-Punkte-Programm."
"Am 12. Dezember 1989 treffen sich die Botschafter der vier Siegermächte in Berlin - erstmals nach 20 Jahren wieder im Alliierten Kontrollratsgebäude. Wie Genscher in seinen Erinnerungen schreibt, herrschte in Bonn damals große Skepsis, ob es ,nicht doch zu einem Viermächtekomplott kommt'. Ist es nicht interessant zu hören, daß es in der Politik auf einmal doch ,Komplotte' gibt?"
Die Bundesregierung hat vor wenigen Wochen bislang geheime Dokumente, Gesprächsprotokolle und Telefonnotizen aus der Zeit unmittelbar nach dem Fall der Mauer am 9. November 1989 bis zum offiziellen Datum der deutschen Einigung am 3. Oktober 1990 veröffentlicht. Anhand dieser Dokumentation läßt sich eindeutig rekonstruieren, welche Mächte es waren, die damals diesen massiven Druck auf Deutschland ausübten und Bonn zu einem politischen Kurswechsel zwangen. Und wenn man diese von der Bundesregierung veröffentlichten Dokumente um die Kenntnisse ergänzt, die wir selbst über die damaligen historischen Ereignisse haben, dann bekommt man tatsächlich - wenn auch in groben Zügen - eine klare Vorstellung von der damaligen politischen Lageentwicklung. Und was noch wichtiger ist: Man kann genau studieren, was heute nötig ist, um eine Lösung der jetzt auf uns zukommenden gigantischen Probleme zu finden.
Zu der Frage, warum Kohl ausgerechnet jetzt die Veröffentlichung dieser Dokumente veranlaßt hat, habe ich meine eigene Hypothese. Wir wissen, daß das internationale Finanzsystem ganz kurz vor dem Kollaps steht. Wir wissen, daß sich in der kurzen Zeitspanne von jetzt bis zum Winter der systemische Zusammenbruch des Weltfinanzsystems vor unseren Augen vollziehen wird. Und es könnte tatsächlich sein, daß dieser Kollaps noch vor den Bundestagswahlen am 27. September passiert. Meine Hypothese: Kohl hat sich zur Veröffentlichung dieser Dokumente zum jetzigen Zeitpunkt entschlossen, um auf jeden Fall "aus dem Schneider" zu sein. Denn sollte der Finanzkollaps noch vor den Wahlen eintreten, würden ihm die Wähler Fragen stellen, wie: "Warum haben Sie die DM nicht geschützt? Warum haben Sie dem Euro zugestimmt? Warum haben Sie mit dem Maastricht-Vertrag der Bundesregierung die Fähigkeit zu souveränem Handeln genommen, so daß dirigistische, wirtschaftspolitische Maßnahmen im nationalen Interesse und zum Schutz des deutschen Volkes blockiert werden?"
Meine Hypothese ist also, daß Kohl die Dokumente deshalb jetzt schon veröffentlicht hat, um in einem solchen Fall sagen zu können: "Ich habe der Einführung des Euro nicht freiwillig zugestimmt, sondern ich wurde dazu gezwungen; das war der Preis, den wir für die deutsche Einigung zahlen mußten."
Das Studium dieser Dokumente ist faszinierend. Sie zeigen der deutschen Öffentlichkeit, welch geradezu pathologischen Haß Margaret Thatcher Deutschland gegenüber hegte. Eine weitere - allerdings in Deutschland weniger bekannte - Tatsache ist die absolute brutale Entschlossenheit Mitterrands, die DM zu beseitigen und die Macht der ihm verhaßten Bundesbank zu brechen. Doch das schockierendste, was aus diesen Dokumenten hervorgeht, ist das lange Zeit "bestgehütetste offene Geheimnis der NATO": Die Bundesrepublik Deutschland blieb in der ganzen Nachkriegszeit bis 1989 faktisch ein besetztes Land. In allen wirklich wichtigen Fragen behielten sich die drei westlichen "Siegermächte des Zweiten Weltkrieges" das "letzte Wort" vor. Und zusammen mit der Sowjetunion rückten sie keinen Deut von ihren "besonderen Rechten" bezüglich Deutschlands als Ganzem ab. Die Westmächte zählten dabei fest auf den vorauseilenden Gehorsam der Bundesregierungen. Die Bundesregierung tat buchstäblich keinen Schritt, wenn es um substantielle politische Fragen ging, ohne ihn nicht vorher mit den Bonner Botschaftern der Westmächte abgestimmt zu haben, wenn sie nicht vorab bereits direkt die Regierungen Washington, London und Paris informiert hatte.
Japan, die zweitgrößte Industriemacht der Welt, steckt in einer tiefen Depression, wobei die Tendenz eindeutig nach unten zeigt, da sich Japans Führung weigert, ihre Status-Quo-Politik zu ändern. Südostasien ist weitgehend wirtschaftlich ruiniert. In Afrika setzt sich der Völkermord ungehindert fort; ein Völkermord, der den der Nazis weit übersteigt. Der gesamte Westen befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise; noch wichtiger: diese Krise ist zugleich eine große Kulturkrise, eine zivilisatorische Krise, wobei die erschreckenden Gewalttätigkeiten von Jugendlichen, aber auch die allgegenwärtige Kinderpornographie lediglich als Symptome einer untergehenden Kultur anzusehen sind.
War es angesichts dieser jetzt herrschenden, grob skizzierten Weltlage Ende 1989 falsch, von "der größten historischen Chance Europas dieses Jahrhunderts" zu sprechen, wie wir und viele andere es damals getan haben? War das tatsächlich eine Fehleinschätzung und eine Illusion? Oder gab es damals sehr wohl eine Chance? Wenn ja, wurde sie vertan? Warum und wie wurde sie vertan?
Im Rückblick müssen wir allerdings zugeben, daß Bundeskanzler Kohl sich damals in einer extrem schwierigen und komplizierten Lage befunden hat: Großbritannien war fest entschlossen, die deutsche Einigung zu verhindern. Genauso wie vor dem Ersten Weltkrieg hat London dabei die Waffe geopolitischer Manipulationen eingesetzt. Bereits im November 1989 initiierte London die Kampagne, ein vereinigtes Deutschland werde zum "Vierten Reich"; was absolut lächerlich war, denn niemand in einer Machtposition in Deutschland dachte in diese Richtung. Fragt man nach dem Cui bono? der Ermordung von Alfred Herrhausen, so weist die Antwort wahrscheinlich nach London. Mitterrand setzte die Beseitigung der DM und den Euro mit erpresserischen Mitteln durch. Auch die damalige US-Regierung unter George Bush war keinen Deut besser. Entgegen der weitverbreiteten Legende war Bush nicht für die deutsche Einheit. Allerdings überzeugte ihn sein Beraterstab sehr bald, daß er gar keine andere Wahl hatte, als die deutsche Einigung zu akzeptieren, da anderenfalls die strategischen Position der USA in Europa nicht zu halten gewesen wäre. Also griff Bush zum altbewährten Mittel, Deutschland die Selbsteindämmung zu "empfehlen". Und als wäre die obstruktive Haltung der Westmächte noch nicht genug gewesen: Völlig unklar war in der damaligen Situation die Haltung Moskaus. Selbst wenn Bonn Gorbatschow die Zustimmung zur deutschen Einheit abringen könnte, bestand eine große Unsicherheit wie andere Kräfte in der Sowjetführung reagieren würden. Würde das Honecker- bzw. das Krenz-Regime in der DDR tun? Es war durchaus möglich, daß sie die friedlichen Demonstrationen in der DDR mit militärischer Gewalt unterdrücken könnten. Zu all dem kamen noch die politischen Probleme mit anderen Staaten: die Niederlande, Italien, Polen und Israel waren damals ja völlig gegen die deutsche Einigung eingestellt.
Deshalb muß man fairerweise zugeben, daß es von Kohl eine ganze Menge Mut erforderte, unter diesen schwierigen politischen Umständen sein "Zehn-Punkte-Programm" vorzulegen. Denn dies war das einzige Mal in seiner Amtszeit, daß Kohl die Westmächte nicht vorab informierte. Auch seinen Koalitionspartner FDP überging Kohl. Damit bestand für einen kleinen Augenblick die Chance, daß Deutschland die Initiative ergriff, um den Gang der Geschichte effektiv zu verändern. Doch wie die amtlichen Dokumente belegen, bestand das Problem darin, daß die Bundesregierung auf diese außerordentliche Situation nicht vorbereitet war. Die Regierung hatte überhaupt kein Konzept, wie sie mit dieser sozusagen revolutionären Lageveränderung umgehen sollte. Man stelle sich das nur vor: es kommt zum langersehnten "Tag X" der deutschen Nachkriegsgeschichte; die deutsche Einigung steht endlich auf der politischen Tagesordnung, aber laut regierungsamtlichen Dokumenten hat das Bundeskanzleramt keinen vorbereiteten Plan in der Schublade, wie diese strategisch einmalige Chance zu nutzen ist.
Denken wir zurück an diese dramatischen Tage und Wochen der jüngeren deutschen Geschicht: die von Woche zu Woche mächtiger werdenden Montagsdemonstrationen, die bereits nach kurzer Zeit zur friedlichen Revolution in der DDR führten. Die historische Entwicklung verlief damals rasend schnell. Hätte Friedrich Schiller zu dieser Zeit gelebt, hätte er unzweifelhaft das dramatische "Material" für eine seiner großen historischen Tragödien vorgefunden, da alle Elemente eines großen Geschichtsdramas gegeben waren;
Drei Tage später fand das Gipfeltreffen zwischen Bush und Gorbatschow vor Malta statt. Dabei ging es um eine "Abstimmung" der beiden damaligen Supermächte, die sich rasant verändernde Lage in Europa wieder "unter Kontrolle" zu bringen - wie die französischen Zeitungen Le Figaro und Libération damals richtig vermuteten. Ebenfalls in jenen Tagen warnte Henry Kissinger, einer der übelsten Geopolitiker des 20. Jahrhunderts, öffentlich vor der "neuen deutschen Gefahr" und verlangte zu dessen Eindämmung eine enge Abstimmung zwischen Bush und Gorbatschow. Und kurz danach bezeichnete der damalige sowjetische Außenminister Schewardnadse während eines Treffens mit Genscher das "Zehn-Punkte-Programm" Kohls als "mit gefährlichen Konsequenzen befrachtet".
Die Frage, die sich jeder von Ihnen angesichts dieser Lage stellen muß, ist die: Wie hätte ich anstelle des deutschen Bundeskanzlers damals gehandelt? Hätte ich auch kapituliert? Oder hätte ich in meinem Inneren die Fähigkeiten besessen und mobilisiert, die es mir erlaubt hätten, anders und besser zu handeln? Und über die ehrliche Beantwortung dieser entscheidenden Frage sollten Sie nicht nur hier und jetzt nachdenken, sondern auch die nächsten Tagen und Wochen. Denn die Frage lautet ja eigentlich: Habe ich in mir selbst die Fähigkeit, die Geschichte wirksam positiv zu verändern?
Letzten Endes lag es dann doch an dem tragischen Fehler in der Persönlichkeit der Hauptfigur, der dazu führte, daß dieser ungewöhnliche Augenblick der Geschichte in einer Tragödie endete. Das subjektive Problem Kohls und seines engsten Beraterkreises bestand darin, daß sie über die Rolle, die sie jetzt in der Weltpolitik zu spielen hatten, noch immer in den Kategorien der Siegermächte dachten. In ihren Köpfen bestand das "System von Jalta" fort. Auch wenn das "Zehn-Punkte-Programm" ganz zweifellos ein richtiger Schritt war, so hätte doch noch eine zusätzliche Dimension hinzukommen müssen: nämlich sich von der geistigen Beschränkungen und "Denkverboten" zu befreien, die das Ergebnis des faktischen Besatzungsstatus in Deutschland während der ganzen Nachkriegszeit waren. Darüber hätte man sich erheben müssen, um in der Lage zu sein, die Geschichte auf einer völlig anderen, höheren Ebene verändern zu können.
Hätte Kohl sich öffentlich für dieses Programm stark gemacht, dann wäre ihm die Unterstützung einer überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung sicher gewesen, und zwar nicht nur hier in Deutschland. Wie der Spiegel in diesem Frühjahr berichtete, sei es Kohl in den kritischen Tagen Ende 1989 sehr bewußt gewesen, daß er gezwungen wurde, gegen die deutschen Interessen zu entscheiden.
In diesem Zusammenhang muß man auch festhalten, daß die Entscheidung, Rußland die katastrophale "Reformpolitik" des IWF aufzuzwingen, die das Land in Massenarmut, Deindustrialisierung, Kriminalisierung und Staatsbankrott stürzte, ebenfalls sehr bewußt getroffen wurde. Laut einer von US-Präsident Bush in Auftrag gegebenen CIA-Studie, deren Inhalt im September 1991 an die Öffentlichkeit drang, wurde bewußt entschieden, Rußland auf dem Wege der IWF-"Schocktherapie" radikal und dauerhaft zu schwächen. Mit der Ermordung von Treuhand-Chef Detlev Rohwedder im April 1991, dessen wirtschaftspolitisches Denken dem Herrhausens ähnelte, wurden die neuen Bundesländer radikal deindustrialisiert und gezielt die Massenarbeitslosigkeit herbeigeführt. Und so braucht man sich nicht zu wundern, wenn im März 1998 bei den Wahlen in Sachsen-Anhalt ein Drittel der Wähler für rechts- bzw. linksextremistische Parteien stimmte.
Man muß sich also erneut fragen: Was ist falsch gelaufen? Warum wurden diese wirtschaftsstrategischen Entscheidungen gefällt und durchgezogen? Warum wurde das getan? Und wiederum bekommt man die Antwort beim Studium der Dokumente zur Deutschlandpolitik: Der damalige Chef des Bundeskanzleramts, Bundesminister Seiters, erklärte am 24. Oktober 1989 während eines Treffens mit den Bonner Botschaftern von Frankreich, Großbritannien und den USA, jetzt sei nicht die Zeit, "Pläne" zu schmieden, sondern jetzt gelte es, Prozesse und Entwicklungen zu "beobachten und behutsam zu fördern".
Das war doch eine unglaubliche Verkennung der dramatischen Umbruchprozesse in der DDR und den anderen osteuropäischen Staaten. Mit der "deutschen Frage", die damals auf der Tagesordnung stand und über die damals auf der politischen Bühne verhandelt und entschieden wurde, waren doch die Grundfragen der gesamten politische Ordnung des 20. Jahrhunderts verknüpft: Die wirkliche Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges, das System von Versailles, die wirkliche Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges, vor allem die anglo-amerikanische Unterstützung für Hitler zwischen 1932 und 1938, und das System von Jalta. Alle diese Fragen waren in diesem historischen Moment auf einmal hochaktuell und harrten einer offenen und ehrlichen Antwort. Dieser Moment war wahrscheinlich der bestmögliche - oder einer der beiden bestmöglichen - im ganzen 20. Jahrhundert, um eine positive Wende in der Weltpolitik zu erzwingen.
Zum besseren Verständnis möchte ich Ihnen ein Zitat aus dem Buch As He Saw It [Wie er es gesehen hat] von Elliot Roosevelt, einem Sohn des Präsidenten Franklin D. Roosevelt, vorlesen, in dem Elliot, der seinen Vater bei einigen der entscheidenden persönlichen Treffen mit Churchill während des Zweiten Weltkriegs begleitete, den prinzipiellen Konflikt zwischen Roosevelt und Churchill detailliert beschreibt. Das folgende Zitat bezieht sich auf das erste Treffen der beiden im August 1941. Roosevelt war fest entschlossen, London in die Schranken zu weisen und erklärte seinem Sohn nach einer heftigen Unterredung mit Churchill:
"Wir müssen den Briten von Anfang an klarmachen, daß wir nicht etwa der ,nette Onkel' sind, den man immer dann benutzt, wenn es darum geht, dem britischen Empire aus der Patsche zu helfen, nur um ihn anschließend dann auf immer zu vergessen. Churchill hat mir erklärt, es sei nicht seine Aufgabe als Premier Seiner Majestät, die Auflösung des britischen Empires zuzulassen. Ich denke, daß ich als amerikanischer Präsident spreche, wenn ich erkläre, daß die USA in diesem Krieg England nicht deshalb beistehen, damit es auch weiterhin seine Kolonialgebiete und deren Menschen unterjochen kann."
Die Frage, über die im Frühjahr 1945 entschieden wurde, war also die Kernfrage, die dem Unabhängigkeitskrieg der USA gegen das britische Empire zugrunde lag. Die damaligen amerikanischen Kolonien hatten diesen Krieg explizit für das Recht auf Freiheit und eigenständige wirtschaftliche Entwicklung geführt. Dieses fundamentale Recht wurde später unter Präsident John Quincy Adams ausdrücklich auf alle Staaten der Welt ausgedehnt. Amerikas Außenpolitik, so Adams, sollte auf die Errichtung einer "Prinzipiengemeinschaft" abzielen, in der alle teilnehmenden Staaten dieselben Grundrechte hätten wie die USA - die Prinzipien der Unabhängigkeitserklärung. Jede Nation der Welt sollte die gleichen Rechte für sich beanspruchen können, wie es die Vereinigten Staaten während der amerikanischen Revolution getan hätten. Abraham Lincoln hat diese Idee später wieder aufgegriffen, doch leider stellte sich zu Beginn dieses Jahrhunderts nach der Ermordung des amerikanischen Präsidenten McKinley unter dessen Nachfolgern Theodor Roosevelt und Woodrow Wilson die amerikanische Außenpolitik wieder in den Dienst des britischen Empire. Das berüchtigte Bonmot vom "amerikanischen Muskel" und dem "britischen Gehirn", die zusammen die Welt beherrschen, beschrieb weitgehend die Realität der internationalen Politik. Und genau damit wollte Präsident Franklin Delano Roosevelt brechen. Und ich möchte besonders unsere deutschen Mitglieder und Freunde auffordern, darüber in Ruhe nachzudenken und nicht auf die gewöhnliche Propaganda gegen Roosevelt hereinzufallen. Natürlich war er kein perfekter Staatsmann; er dehnte seine prinzipielle Gegnerschaft gegen die Nazis auf "die Deutschen" aus. Seine antideutsche Haltung war natürlich eine Unzulänglichkeit seines Charakters. Doch ist das nicht das Entscheidende, um das es mir geht.
Entscheidend war, daß Roosevelt am Ende des Zweiten Weltkriegs ein für alle Mal die Kolonialpolitik des britischen Empire abschaffen wollte, und diese Tatsache müssen wir in unserer politischen Arbeit benutzen. Leider starb Roosevelt Anfang April 1945, viel zu früh und zu einem Zeitpunkt, an dem er wirklich unersetzlich war. Sein Nachfolger wurde der anglophile, mittelmäßige Truman. Das Resultat: Nicht Roosevelt, sondern Churchill bestimmte die Parameter der internationalen Nachkriegsgeschichte. Hätte Roosevelt seine vierte Amtszeit, für die er erst im November 1944 gewählt worden war, bis zu Ende führen können, wäre die ganze Nachkriegsgeschichte völlig anders verlaufen.
Ich möchte daran erinnern, daß es tatsächlich solche seltenen "Sternstunden der Geschichte" gibt, in denen - eben nicht auf pragmatisch-kontinuierliche Weise - der Lauf der Geschichte fundamental verändert werden kann. Doch ob ein solcher Moment dann auch für eine positive Wende genutzt werden kann, hängt ausschließlich davon ab, daß zu diesem Zeitpunkt auf der weltpolitischen Bühne Staatsmänner und nicht bloße "Realpolitiker" agieren. In einer solchen Situation unterwerfen sich "Realpolitiker" fast zwangsläufig der oligarchischen Kontrolle - vor allem über die internationalen Finanzinstitutionen. Diese Finanzoligarchie ist die "Ordnungsmacht", die praktisch während des ganzen 20. Jahrhunderts die Weltpolitik bestimmt hat. Die Schlüsselfrage ist also: verfügen die politisch Verantwortlichen, die in einem derart wichtigen historischen Moment die Entscheidungen treffen müssen, über ein klares philosophisches Grundkonzept zur effektiven Überwindung der oligarchische Ordnung? Haben sie eine prinzipielle philosophische Überzeugung, mit der sie klar beurteilen können, welche Maßnahmen im Interesse des Gemeinwohls und einer Prinzipiengemeinschaft souveräner Staaten erforderlich sind?
Deutschland hatte 1945 nicht die Chance für einen wirklichen Neuanfang, doch bot die Lage Ende 1989/Anfang 1990 tatsächlich diese Chance. Die Einheit Deutschlands konnte mit der Schaffung einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung verknüpft werden - auch gegen den erklärten Willen der bis dahin die Weltpolitik kontrollierenden Strukturen. In gewisser Weise besteht das Paradoxe der Lage von 1989 gerade darin, daß Kohl trotz der deutschfeinlichen Einstellung Roosevelts dessen politische Grundüberzeugungen hätte übernehmen müssen. Kohl hätte an Roosevelts dirigistische Wirtschaftspolitik anknüpfen müssen, mit dieser in den 30er Jahren die Depression in Amerika überwand.
Zur gleichen Zeit nahm auch die Bewegung der Nichtpaktgebundenen Staaten unter der Führung von Nehru, Sukarno, Nasser u.a. den Kampf für eine neue gerechte Weltwirtschaftsordnung auf. Leider muß man rückblickend feststellen, daß sie unter dem Einfluß und Druck der ehemaligen Kolonialmächte von ihrem ursprünglichen Kurs abkam und zu einem bloßen Spiegelbild der Heteronomie der Vereinten Nationen wurde. Fast jedes Entwicklungsland betrieb mehr oder weniger nur die Durchsetzung seiner eigenen Interessen, und nur einige wenige - Indien unter Nehru und seiner Tochter Indira Gandhi war eine große Ausnahme - für das Interesse der gesamten Menschheit kämpften. Und wenn jedes Entwicklungsland nur seine eigenen Interessen durchsetzen will, können die ehemaligen Kolonialmächte die verschiedenen Länder natürlich sehr leicht manipulieren und gegeneinander ausspielen.
Aber während in den frühen 60er Jahren unter UN-Generalsekretär U Thant noch eine intensive öffentliche Diskussion über die sog. "Zweite Entwicklungsdekade der Vereinten Nationen" geführt und damit die Idee aufrechterhalten wurde, daß sich die "Entwicklungsländer" doch allmählich "entwickeln" würden, setzte ab Mitte der 60er Jahre der "Wertewandel" ein, mit dem diese Idee zerstört wurde. Statt dessen wurde mit dem Argument der angeblichen "Überbevölkerung" eine Frontstellung des industrialisierten Norden gegen den unterentwickelten Süden aufgebaut. Unterhält man sich heute mit Jugendlichen und fragt sie, wie sich ihrer Meinung nach die Unterentwicklung des Südens überwinden lasse, dann stellt man vor allem Desinteresse fest; soweit ist diese Gehirnwäsche bereits gediehen. Wir kennen die absurde Argumentation: Die Welt sei hoffnungslos überbevölkert, es gebe zuwenig Rohstoffe für alle Menschen auf der Erde, der technologische Fortschritt sei gefährlich und ähnliche inzwischen weitverbreitete Lügen. Unsere heutigen Jugendlichen wissen nicht, daß es noch in den 60er Jahren diesen wichtigen Kampf für eine neue gerechte Weltwirtschaftsordnung gab.
LaRouche hatte nichts anderes als ein neues internationales Finanzsystem vorgeschlagen, das zinsgünstige und langfristige Kredite bereitstellte, mit denen ein großdimensionierter Technologietransfer von Nord nach Süd zur Verwirklichung wohldefinierter Infrastrukturprojekte finanziert werden sollte.
Übrigens kann ich Ihnen versichern: bereits damals, im Jahre 1975, war das IWF-System bankrott, moralisch sowieso, aber finanztechnisch gesehen auch. Der einzige Grund, warum dieses bankrotte Finanzsystem noch immer existiert, liegt darin, daß die Finanzoligarchie es mit allen Mitteln aufrechterhalten hat. Und das heißt im Klartext: Hunderte Millionen Menschenleben wurden der Aufrechterhaltung dieses bankrotten Systems geopfert, indem die Finanzmittel in unproduktive Spekulation geleitet wurden, während die Menschen außerhalb der OECD-Staaten durch Hunger, Krankheiten, Kriege und Bürgerkriege umkamen.
Wir haben über den IEB-Vorschlag viele tausend Diskussionen mit Politikern und Diplomaten des Entwicklungssektors genauso wie mit Bankiers, Industriellen und Regierungsvertretern hier in Europa sowie in den USA geführt. Damals haben sogar einige Zentralbanken Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben, um die Frage klären zu lassen, ob LaRouches Vorschlag für die IEB auch tatsächlich funktionieren würde. Das Resultat: Die IEB würde funktionieren, und zwar sogar vorzüglich. Aber da war ein Haken. Ich erinnere mich noch lebhaft an eine Diskussion, die ich in dieser Zeit mit einem schweizerischen Privatbankier in Basel hatte, der seine letztendliche Ablehnung der IEB mit den Worten begründete: "Ja, die Sache würde funktionieren, aber wir wollen nicht, daß sich die Dritte Welt entwickelt; uns paßt es einfach nicht, daß die Entwicklungsländer zu modernen Industriestaaten nach europäischem Muster werden." Die Staaten des Entwicklungssektors sahen das natürlich anders, und auf der 5. Gipfelkonferenz der Nichtpaktgebundenen Staaten, die im August 1976 in Colombo in Sri Lanka stattfand, wurde intensiv über LaRouches Vorschlag diskutiert. Wie intensiv, zeigte sich dann an der Schlußresolution, die alle wichtigen Ideen von LaRouche enthielt: 85 Staaten der Welt forderten eine neue gerechte Weltwirtschaftsordnung samt einem neuen Weltwährungssystem.
Als wir hier in Europa davon erfuhren, habe ich sofort die Deutsche Presse Agentur dpa angerufen und den Chef vom Dienst gefragt, wann dpa diese Resolution veröffentlichen werde, schließlich forderten ja 85 Staaten - also die Mehrheit der Welt - eine neue Weltwirtschaftsordnung. Dieser Journalist entgegnete mir daraufhin: "Ach, das hat keinen Nachrichtenwert, wir werden das nicht bringen."
Dasselbe Konzept wurde wenig später dann durch einen mutigen Schritt des damaligen Außenministers von Guyana, Fred Wills, bei der UN-Vollversammlung, die Ende September 1976 in New York stattfand, vorgetragen. Henry Kissinger und andere Gleichgesinnte machten gegen den Entwicklungssektor mobil, und als Resultat wurde die Regierung Indira Gandhis destabilisiert, ebenso Frau Bandaranaike von Sri Lanka, und Pakistans Ministerpräsident Zulfikar Ali Bhutto wurde sogar umgebracht. Dadurch wurde die Bewegung der Nichtpaktgebundenen Staaten zerschlagen und das Momentum für eine neue Weltwirtschaftsordnung erst einmal gestoppt.
Die nächste Chance für die Menschheit, diese oligarchische Kontrolle der Weltpolitik abzuschütteln, ergab sich mit dem, was dann zur SDI wurde, der Strategischen Verteidigungsinitiative. Es ist sehr wichtig zu verstehen, daß zwischen dem Einsatz der Nichtpaktgebundenen Staaten im Jahre 1976 für die Errichtung einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung, der von LaRouche Ideen gespeist wurde, und LaRouches Bemühungen, die Militärdoktrin der beiden damaligen Supermächte grundlegend zu verändern, ein innerer Zusammenhang besteht.
In dieser Situation entwickelte LaRouche ein Konzept, das später den Namen SDI erhielt: ein vierschichtiges Verteidigungssystem mit Strahlenwaffen, um gegnerische Atomraketen mit Lichtgeschwindigkeit zu zerstören. Die Realisierung dieses Verteidigungssystems hätte atomar bestückte Angriffsraketen obsolet gemacht; Strahlenabwehrwaffen sind nicht nur um Größenordnungen effizienter, sondern auf Dauer auch billiger als Angriffsraketen mit Nuklearsprengköpfen. Allerdings lag das Geniale des SDI-Konzepts von LaRouche darin, daß beide Supermächte diese neue Technologie gemeinsam entwickeln und in koordinierter Weise gleichzeitig stationieren sollten.
Natürlich sollte die Tatsache ausgenutzt werden, daß diese neue Verteidigungstechnologie auf der Basis neuer physikalischer Prinzipien gewissermaßen ein "Wissenschafts- und Wirtschaftsmotor" war, der die Produktivität nicht nur der Zivilwirtschaft der Supermächte und ihrer Verbündeten sondern der gesamten Weltwirtschaft um Größenordnungen steigern konnte. Durch eine solche technische und wirtschaftliche Revolution konnte dann auch der längst überfällige Technologietransfer von Nord nach Süd vollzogen und die Unterentwicklung des Südens überwunden werden. Es ging LaRouche also bei der SDI auch um die Idee, die "gemeinsamen Ziele der Menschheit" zu verwirklichen, wie es der Physiker Edward Teller, der in der fraglichen Zeit auch einen wichtigen Beitrag zur SDI leistete, damals ausdrückte.
Ein Jahr lang, von Anfang 1982 bis Anfang 1983, führte LaRouche im Auftrag der Regierung Reagan mit sowjetischen Vertretern Hintergrundgespräche zur Frage der SDI. An diesen Diskussionen habe ich teilgenommen, ebenso wie an den Gesprächen, die LaRouche mit Mitgliedern des Nationalen Sicherheitsrates (NSC) der USA führte. Wir sprachen mit hohen Vertretern beider Supermächte, die ernsthaft überlegten, ein defensives Strahlenwaffensystem zu installieren.
Aber im Februar 1983 kam aus Moskau als endgültige Antwort ein "Njet"! Sie lehnten das SDI-Konzept mit der Begründung ab, die Vorteile im zivilen Bereich der Wirtschaft seien für den Westen viel größer als für die sowjetische Seite. Kurz darauf, am 23. März 1983 verkündete US-Präsident Ronald Reagan offiziell, er wolle die SDI zum Kernstück einer neuen amerikanischen Militärdoktrin machen. Reagan fügte als Angebot an die Sowjets hinzu, Amerika würde ihnen dabei helfen, diese neuen Technologien auch im zivilen Bereich der sowjetischen Wirtschaft bei der Überwindung von Engpässen und der notwendigen Modernisierung zu nutzen. Dieses Angebot der USA galt bis zum August 1983, so daß es ein knappes halbes Jahr sozusagen auf dem Verhandlungstisch lag.
Leider gelang den Kreisen um Bush, Baker und Kissinger in dieser kritischen Zeit ein politischer Coup gegen den amerikanischen Präsidenten, mit der Folge, daß die SDI immer mehr abgewürgt wurde. Außerdem hatten die Sowjets - wie vorher angekündigt - Reagans Angebot kategorisch abgelehnt. LaRouche hat Ende 1983 prognostiziert, daß die Sowjetunion als direkte Konsequenz ihrer Ablehnung der SDI - und der damit einhergehenden gesamtwirtschaftlichen Modernisierung - ungefähr binnen fünf Jahren vor dem wirtschaftlich Kollaps stehen würde.
Rund fünf Jahre später, am 12. Oktober 1988, hielt LaRouche seine inzwischen berühmt gewordene Rede im Berliner Hotel Kempinski. Mit Blick auf die immer schlechter werdende Versorgungslage in den damaligen RGW-Staaten wiederholte er diese Prognose. LaRouche sagte damals auch, es werde nicht mehr lange dauern, bis die Frage der deutschen Wiedervereinigung zu einer aktuellen Tagesfrage der Weltpolitik würde. Deshalb schlug er vor, ein vereinigtes Deutschland - mit Berlin als Hauptstadt - solle Polen mit Hilfe westlicher Technologie wirtschaftlich entwickeln und modernisieren, sozusagen als "Modell" für die anderen Länder des damaligen Ostblocks.
In diesem Zusammenhang möchte ich an einen sehr aufschlußreichen Artikel des deutschen Historikers Detlef Junker erinnern, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 13. März 1997 veröffentlichte. Darin gebraucht Prof. Junker zur Beschreibung der amerikanischen Position die Formulierung "klassische Trias amerikanischer Deutschlandpolitik im 20. Jahrhundert: Einheit, Eindämmung und Integration". Ziel der Bush-Regierung sei "Deutschlands Einheit und Selbsteindämmung durch Integration" in die NATO und die Europäische Union gewesen. Diese Einschätzung Junkers entspricht der Wahrheit. Junker fügt hinzu, daß Kohls "Zehn-Punkte-Programm zur deutschen Einheit parallele Ziele" zu der amerikanischen "Trias"-Position, der letztlich sowohl Frankreich wie Großbritannien als auch die Sowjetführung zustimmten, zum Ausdruck gebracht habe.
Dann kommt es zu der Flüchtlingswelle Ende Juli/Anfang August, DDR-Bürger flüchten in die Ständige Vertretung in Ostberlin sowie in die bundesdeutsche Botschaften in Budapest, Prag und Warschau.
In der Budapester Botschaft halten sich am 7. August 130 Menschen auf. Kohl sieht sich gezwungen, die Ständige Vertretung für den Publikumsverkehr zu schließen. Als an der bundesdeutschen Botschaft in Budapest Pässe für DDR-Bürger ausgestellt werden, kommt es zu wütenden Protesten der DDR-Regierung. Am 25. August 1989 kommt es zu einem streng geheimgehaltenen deutsch-ungarischen Treffen auf Schloß Gymnich; mit der Rückversicherung Gorbatschows und tatkräftiger finanzieller Hilfe der Bundesrepublik kommt es zu einer Übereinkunft mit Ungarn, daß die Deutschen aus der DDR, die sich in der Botschaft in Budapest aufhalten, am 11. September, kurz vor Beginn des CDU-Parteitags in Bremen, über Österreich ausreichen dürfen. Ähnliche Ausreise-Vereinbarungen über die "Botschaftsflüchtlinge" in Prag und Warschau folgen. Am 19. September 1989 gründet sich in der Ost-Berliner Gethsemane-Kirche die Oppositionsgruppe Neues Forum.
Am 21. September erklärt Manfred Wörner, der damalige Nato-Generalsekretär, in einer Diskussion mit Seiters, daß auch bei einem Wandel der Ost-West-Beziehungen die NATO ihre Bedeutung als politisches Bündnis nicht nur behalten, sondern ausweiten müsse.
Am 6. Oktober 1989 finden die Feiern zum 40jährigen Bestehen der DDR statt. Wie kritisch die Lage tatsächlich war, konnte man an den vielen Polizisten, Stasi-Leuten und Soldaten erkennen, die zum Schutz der "Feierlichkeiten" aufgeboten wurden. Am nächsten Tag kommt es zu der Begegnung Gorbatschows mit Honecker, die das politische Schicksal Honeckers besiegelt. Gorbatschow - so die regierungsamtliche Dokumentation - "macht erneut die Erfahrung: Der SED-Generalsekretär ist reformunfähig, ein Führungswechsel unausweichlich."
Denken Sie bitte daran, daß LaRouche während dieser ganzen Zeit als politischer Gefangener der Regierung Bush unschuldig im Gefängnis saß. Als ich ihm den dramatischen Ablauf der politischen Ereignisse schilderte, handelte er so schnell es die damaligen Umstände zuließen: Im Gefängnis entwickelte LaRouche in kürzester Zeit die Konzeption des "produktiven Dreiecks".
Am 16. Oktober 1989 erklärt US-Außenminister Baker in einer Ansprache, das "Streben der Deutschen nach Selbstbestimmung in Frieden und Freiheit" sei ein "legitimes Recht". Aber Baker spricht nicht über die Möglichkeit oder gar das Recht auf Wiedervereinigung, sondern er benutzt lediglich die Vokabel "Versöhnung". Dahinter verbirgt sich offenbar die Position, die DDR werde als selbständiger Staat fortbestehen. Am 18. Oktober wird Honecker auf einer Sitzung des Politbüros des Zentralkommittees der SED gestürzt; sein Nachfolger wird Egon Krenz. Anfang November 1989 trifft Minister Seiters mit Alexander Schalck-Golodkowski zusammen, der ihm gegenüber erklärt: "Die DDR steht in Kürze vor dem Bankrott". Ebenfalls Anfang November weiten sich die friedlichen Montagsdemonstrationen, vor allem in Leipzig, immer weiter aus und wachsen auf über 200000 Menschen an.
Am 9. November 1989 fährt Kohl in Begleitung einer 80köpfigen Delegation nach Warschau. Bei dem Besuch stehen die Massendemonstrationen mit 600000 bis 700000 Menschen in Ost-Berlin und Leipzig im Mittelpunkt der Regierungsgespräche. Erstaunlicherweise sieht Kohl die Lage nicht so dramatisch wie Lech Walesa, der bezweifelt, daß die Mauer "in ein bis zwei Wochen noch stehen wird." Am Abend dieses 9. November 1989 hält ZK-Mitglied Günter Schabowski in Ost-Berlin eine internationale Pressekonferenz ab. Er verkündet eine neue Ausreiseregelung, die als eine Öffnung der DDR-Grenzen verstanden wird. Als Kohl Stunden später von der Öffnung erfährt, unterbricht er seine Polenreise für eineinhalb Tage, um an einer von der SPD initiierten Kundgebung in Berlin vor dem Schöneberger Rathaus teilzunehmen und dort Gespräche zu führen. Dann fliegt er zur Leitung einer Kabinettssitzung nach Bonn, von wo aus er auch mit Bush, Thatcher und Mitterrand telefoniert.
Am 13. November 1989 verlangt der sowjetische Botschafter in Bonn Kwisinskij von der Bundesregierung, die DDR weiterhin als souveränen Staat zu behandeln. In der zweiten Novemberhälfte bekommt Kohl genaue Berichte über die Stimmungslage in der DDR. Die Wut gegen die Korruption des SED-Regimes wächst, aber auch Hoffnungslosigkeit und Lähmung machen sich breit.
Doch das stimmt nicht. Bereits im Oktober 1988 hatte LaRouche das Herannahen dieses "Tags X" vorausgesagt. Hätte man auf ihn gehört, wäre der Zusammenbruch der DDR nicht so "überraschend" gekommen. Auch "Vorarbeiten" waren bereits geleistet worden, denn das Programm des produktiven Dreiecks lag im Entwurf bereits vor. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich Kohl, Waigel und Mitterrand in verschiedenen Schreiben und öffentlichen Erklärungen auf die Bedeutung des Programms des produltiven Dreiecks hingewiesen.
Nachdem Kohl seine unterbrochenen Polenreise beendet hat, setzt er sich am 15. November 1989 in einem Telefonat mit Bush für die nötige Lebensmittelhilfe für Polen ein und fordert eine Kreditunterstützung der amerikanischen Regierung in Höhe von 250 Mio Dollar. In der Dokumentation heißt es dazu:
Wir haben damals die Initiative ergriffen. Am 22. November 1989 schrieb ich ein Flugblatt mit der Überschrift "Geliebtes Deutschland, weiter so mit Zuversicht!", in dem ich die Idee der Zusammenarbeit von Deutschland und Frankreich beim Aufbau Polens noch einmal dargestellt habe. Dieses Flugblatt haben wir an der halb geöffneten innerdeutschen Grenze - wir durften sie ja noch nicht nach Osten passieren - in Riesenauflage verteilt.
Während laut Dokumentation in Bonn intensiv darüber nachgedacht wird, ob bzw. wann der Bundeskanzler mit einem "Wiedervereinigungsplan" an die Öffentlichkeit gehen soll, stellt das amerikanische Schiller-Institut eine 50köpfige Delegation zusammen, um an der Berliner Mauer öffentlich für die deutsche Einheit zu demonstrieren. Am 27. November 1989 kommt diese "Benjamin-Franklin-Brigade" zu einem Besuch in die "alte und künftige Hauptstadt Berlin" und demonstriert vor dem Brandenburger Tor und am Checkpoint Charlie für die deutsche Einheit. Wir waren die einzige politische Organisation aus dem Westen, die das damals machte; niemand sonst hatte den Mut dazu.
Wir haben in diesen Tagen ein weiteres Massenflugblatt verbreitet, in dem in dem die Konzeption des "Produktiven Dreiecks" schon voll ausgearbeitet war. Am 30. November 1989 wird Alfred Herrhausen, der Chef der Deutschen Bank ermordet.
Am 2. und 3. Dezember 1989 kommt es zum sowjetisch-amerikanischen Gipfel auf dem Passagierschiff "Maxim Gorki" vor Malta. Bush signalisiert Gorbatschow, er werde keine Schritte zur "Beschleunigung" der deutschen Frage unternehmen. Ebenfalls in diesen beiden Tagen verfaßt Kanzlerberater Bitterlich ein Memorandum für Kohl über Mitterrands Antwort auf Kohls Zehn-Punkte-Programm, in dem deutlich wird, daß "Mitterrand die Zustimmung zur ,Konföderation' [beider deutscher Staaten], noch nicht einmal der Wiedervereinigung, an die Entscheidung für die Währungsunion und zwar schon beim Straßburger Gipfel des Europäischen Rates am 8./9. Dezember knüpfte". Hier haben wir also Mitterrands erpresserisches Ultimatum ganz regierungsamtlich.
Am 3. Dezember trifft Kohl Bush in der Nähe von Brüssel. Bush verlangt und erhält von Kohl die verbindliche Zusicherung, daß es keine Alternative zur europäischen Integration und der Einbindung Deutschlands in die NATO gebe.
Am 12. Dezember 1989 treffen sich die Botschafter der vier Siegermächte in Berlin. In der Manier von Besatzungsmächten versammeln sie sich erstmals nach 20 Jahren wieder im Alliierten Kontrollratsgebäude. Das muß die Bundesregierung natürlich als einen provokativen Akt und als diplomatische Degradierung empfinden. Wie Genscher in seinen Erinnerungen schreibt, herrschte in Bonn damals große Skepsis, ob es "nicht doch zu einem Viermächtekomplott kommt". Ist es nicht interessant zu hören, daß es auf einmal doch in der Politik "Komplotte" gibt?
In der Zwischenzeit hatte sich die Stimmung der DDR-Bevölkerung stark aufgeheizt, der Ruf nach Einheit - "Wir sind ein Volk" - wird immer lauter. Am 19. Dezember 1989 besucht Kohl bei seinem ersten offiziellen Besuch in der DDR die Stadt Dresden, wo er von Zehntausenden stürmisch begrüßt wird. Das wird "für ihn das Schlüsselerlebnis auf dem Weg zur Einheit."
Zum Jahreswechsel 89/90 stellt die Bundesregierung verschiedene Überlegungen an, wie es nun mit der deutschen Einheit weitergehen soll. Kohl beschließt die diskrete Unterstützung der Opposition in der DDR, aber so, daß nicht er als Initiator erscheint, sondern daß der "Druck von den Leuten auf der Straße in der DDR" ausgeht. Hätte Kohl bei seiner Neujahrsansprache 1990 dann das Programm des "Produktiven Dreiecks" als seine Politik für Deutschland und Europa vorgestellt, dann hätte sich die Lage - und zwar die Weltlage - schlagartig verändert.
Am 15. Januar 1990 wird mit der Erstürmung der Stasi-Zentrale der in der Ost-Berliner Normannenstraße klar, daß die staatlichen Organe der DDR auseinanderfallen.
Mitte Januar 1990 veröffentlichen wir unser Aktionprogramm zur Gestaltung der deutschen Einheit und der Entwicklung ganz Europas unter dem Titel "Das produktive Dreieck Paris-Berlin-Wien: Lokomotive für die Weltwirtschaft". Es ist dies die detaillierte Ausarbeitung der von LaRouche im Herbst 1989 entwickelten Idee. Die ersten Exemplare der Broschüre werden allen Staats- und Regierungschefs in Europa zugeleitet. In den folgenden Wochen zirkulieren viele hunderttausend dieser Broschüren in ganz Deutschland. Es beginnt eine internationale Kampagne zur Durchsetzung des Programms des produktiven Dreiecks, die in den folgenden Monaten auch in alle Länder Osteuropas hineingetragen wird.
Am 6. Februar 1990 gab es im CDU-Präsidium eine intensive Diskussion über die richtige Wirtschaftspolitik für ein sich vereinendes Deutschland. Einen Tag später hatte Kohl meinen Brief auf seinem Schreibtisch, den ich als Begleitbrief dem ihm zugesandten "Dreiecks-Programm" beigefügt hatte.
Am 14. Februar 1990 veröffentlichten wir eine Studie, wie der wirtschaftliche Wiederaufbau Osteuropas mit einer kulturellen Renaissance Europas in der Tradition der Weimarer Klassik zu verbinden sei. Am 19. Februar 1990 sprachen prominente Mitglieder der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings, die zur Unterstützung der friedlichen Revolution nach Deutschland gekommen waren, auf der Montagsdemonstration in Leipzig.
Abschließend seien noch meine Briefe an Bundeskanzler Kohl und die Mitglieder seines Kabinetts - u.a. Bundesfinanzminister Theo Waigel - vom August 1990 erwähnt. Darin wies ich, neben einer nochmaligen Zusammenfassung der Kernpunkte des produktiven Dreiecks, darauf hin, daß der sich abzeichnende Golfkrieg eine geopolitische Reaktion anglo-amerikanischer Interessen gegen eine gesamteuropäische Zusammenarbeit zur wirtschaftlichen Entwicklung Osteuropas sei.
Jetzt muß ein starkes Bündnis souveräner Staaten - zu dem natürlich die USA gehören müssen, genauso wie führende Staaten Asiens, vor allem China und Indien - auf dem Höhepunkt der Krise entschlossen ein "Neues Bretton Woods", ein neues Weltwährungs- und Finanzsystem, als Kernstück einer neuen gerechten Weltwirtschaftsordnung durchsetzen. Diese neue Ordnung souveräner Nationalstaaten muß von den Entwicklungsländern wie von den Industriestaaten getragen sein, damit alle Spielarten von Globalisierung, Spekulation und Neokolonialismus beseitigt werden. Wir befinden uns jetzt an einem entscheidenden Wendepunkt der Geschichte. Lernen wir also die Lektion von 1989! Die Tatsache, daß diese Organisation in den letzten 25 Jahren die von mir vorgestellten Ideen hervorgebracht und weltweit politisch vertreten hat, gibt uns nicht nur eine enorme Verantwortung, sondern auch einen Führungsanspruch. Zumindest sind wir mächtig im Bereich der Erzeugung und Verbreitung und Zirkulation von Ideen. Ihre Aufgabe in den kommenden Wochen und Monaten wird darin bestehen, als wahrhaft welthistorische Individuen zu handeln, um sicherzustellen, daß die Geschichte nicht wieder zur Tragödie wird, sondern daß die Vernunft die Welt die Oberhand gewinnt.
Fußnote: Dokumente zur Deutschlandpolitik, herausgg. vom Bundesministerium des Innern unter Mitw. des Bundesarchivs. K. Hildebrand, H.-P. Schwarz, F.P. Kahlenberg. Deutsche Einheit. Sonderedition aus den Akten des Bundeskanzleramtes 1989/90. H.J. Küsters, D. Hofmann, 1998.
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