Januar 2005:

Glotz' Zukunftsgesellschaft und das Recht des Stärkeren

Broschüre Saat der Gewalt
Der bekannte SPD-Politiker und Ideologe Peter Glotz macht sich für ein Gesellschaftsmodell stark, mit dem der Sozialstaat vollends abgebaut und die Verarmung von einem Drittel der Bevölkerung bewußt in Kauf genommen wird. Das ist der Nährboden für die zukünftige Ellenbogengesellschaft.

Das Bild zeigt ein Themenheft aus den vergangenen Jahren. Die BüSo hat in der Vergangenheit des öfteren mit solchen Publikationen vor dem Wertewandel gewarnt, der durch Politiker vom Schlage eines Peter Glotz provoziert wurde. Elisabeth Hellenbroich, Mitglied des Landesverbands Rheinland-Pfalz, recherchierte den folgenden Beitrag.

Der SPD-Ideologe Peter Glotz ist Mitunterzeichner der Anzeige "Auch wir sind das Volk", Mitglied der vom früheren Bundesbankpräsidenten Tietmeyer gegründeten ultraliberalen "Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft" und einflußreicher Ideologe in der von der Bertelsmann-Stiftung initiierten Hochschulreformdebatte. Er gehört in Deutschland zu jenem Netzwerk neoliberaler Meinungsmacher und Professoren, die sich in den öffentlichen Debatten als engagierte Fürsprecher radikaler Sparmaßnahmen und einer an den Ideen des Club von Rom ausgerichteten, neomalthusianisch-"postmodernen" Gesellschaft hervortun.

Seit 2000 lehrt Glotz als Kommunikationswissenschaftler an der St. Gallener Hochschule. Die Vision, die er in seinen Reden, Aufsätzen und Büchern entwirft, ist eine postmoderne, "digitale" Gesellschaft, in der nur der "Stärkere" überlebt. In einer solchen, deregulierten, dematerialisierten und globalisierten Gesellschaft werde in der Zukunft, so die Kernthese von Glotz, ein Drittel der Menschen "als Bodensatz" struktureller Reformen ins Abseits gedrängt. Gleichzeitig würden sich die damit einhergehenden gesellschaftlichen Spannungen in "Kulturkämpfen" und neuen sozialen Konflikten entladen.

Glotz weiß offensichtlich, wovon er spricht, denn unmittelbar nach dem Landtagswahlkampf in Sachsen traf er sich mit dem NPD-Vorsitzenden Udo Voigt zu einer Fernsehdebatte, in der er die "Contra"-Position gegenüber der NPD einnahm, sich aber auffallend gesprächsbereit und devot gegenüber Udo Voigt zeigte.

Vision der "Software-Gesellschaft"

Peter Glotz wurde am 6. März 1933 in Eger (Böhmen) geboren. Seine Kindheit und Flucht und die mit diesen Erlebnissen verbundene tiefsitzende Skepsis gegenüber dem Nationalstaat hat ihn zeitlebens geprägt. Von Beruf Kommunikationswissenschaftler war er 1972-1977 und 1983-86 Mitglied des Deutschen Bundestages, von 1974-77 parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister für Bildung und Wissenschaft, 1977-81 Senator für Wissenschaft und Forschung des Landes Berlin, von 1980-87 Bundesgeschäftsführer der SPD, 1996 Rektor der Universität Erfurt und Professor für Kommunikationswissenschaften und schließlich seit 2000 Professor an der Universität St. Gallen.

In einer Rede zum Thema "Sicherheits- und Außenpolitik im Zeitalter der globalen Kommunikation" skizzierte Glotz am 22. September 2004 in Berlin die Zukunftsvision, wie er sie bereits in seinen Büchern Die beschleunigte Gesellschaft (1999) und Von Analog zu Digital (2001) dargelegt hat. Seine Kernthese: Wir erleben derzeit den Übergang von einer Industriegesellschaft, einer Hardware-, in eine Software-, d.h. eine Wissens- und Dienstleistungsgesellschaft. Dies gehe einher mit immer mehr Dezentralisierung und Beschleunigung. Es werde sich in der Folge eine Zwei-Drittel-Gesellschaft herausbilden, in der ganz unterschiedliche Lebenskulturen herrschen. Dies werde zu scharfen Kulturkonflikten führen, die gelegentlich gewaltsam ausgetragen würden, ob in Form politischer Konflikte oder in Form gewöhnlicher Kriminalität. Als eine der Hauptbedrohungen für die Sicherheit sieht Glotz ethnische Konflikte, z.B. im Kaukasus - die wiederum eine notwendige Folge des Zerbrechens des Nationalstaats seien - , internationalen Terrorismus und die Gefahr atomarer Kriege.

Huntingtons Logik vom "Clash of Civilizations" ("Krieg der Kulturen") folgend lokalisiert Glotz die Ursachen für die Terrorismusgefahr im demographischen Wachstum. In der Geschichte seien es stets die "großen Youth bulges" gewesen, also die vielen jungen Männer, die keine Beschäftigung fanden und nach Auskommen suchen mußten, die den Ausweg in Kriegen suchten. "Dies dürfte so bleiben ... Die Youth bulges werden zu Rekrutierungsarmeen für den internationalen Terrorismus."

In Von Analog zu Digital entwirft Glotz das Bild einer Gesellschaft, in der nicht das Gemeinwohl, sondern die darwinistische Idee - das Recht des Stärkeren - zum Maßstab wirtschaftlichen Handelns wird.

"Dematerialisierung", "Dezentralisierung", "Deregulierung", "Globalisierung" und "Outsourcing" seien Kennzeichen dieser neuen Gesellschaft. Während zwei Drittel das Beschleunigungstempo der deindustrialisierten Informationsgesellschaft bereitwillig mitmachten, werde sich im untersten Drittel eine neue Unterschicht, ein neues Proletariat bilden, das zu einem guten Teil aus Aussteigern, Verweigerern, Arbeitslosen besteht. Glotz sagt voraus, daß uns in der Zukunft aufgrund der am Arbeitsmarkt und im Bildungswesen der "Industriekultur" stattfindenden tektonischen Verschiebungen eine Revolution, ein "Kulturkampf" bevorstehe, dessen Anfang wir jetzt erleben.

Natürlich werde sich, so Glotz, auch das Parteienbild verändern: Parteien seien heutzutage einseitige, zusammengesetzte, relativ geschlossene und vergleichsweise alte, hierarchisch gestufte Kommunikationszirkel, in die die vielfältigen Bedürfnisse der differenzierten Zivilgesellschaften nur mühsam und langsam vordringen. Glotz entwirft das Bild einer "wilderen, anarchischen, spekulationsgetriebenen, weltweit operierenden Wirtschaft". In der Zukunft würden mehr Menschen in der Informationsverarbeitung und in der Dienstleistung tätig sein als in der Industrie. Eine Ausdünnung der Mitte wäre die Folge, d.h. der Mittelstand werde verschwinden. Es ist die Rede von der Dematerialisierung: Ein Großteil der Wirtschaft werde nicht mehr von der Verwertung von Bodenschätzen, von Stoffverwandlungsprozessen und Energie getragen, sondern von der Verwertung von Information - wie der englische Soziologe und Ideologe des "Dritten Wegs" Anthony Giddens (ein Berater Tony Blairs) gesagt habe: Die hardware-orientierte Gesellschaft verwandele sich in eine software-orientierte telematische Gesellschaft.

Was dabei zählt, ist "Just-in-time-Produktion" und "Outsourcing" der Produktion, denn "große Unternehmen bewegen sich dorthin, wo sie die günstigsten Bedingungen finden", heißt es bei Glotz.

Dematerialisierung

Die "digitale Ökonomie", so Glotz, gehe einher mit einer Verdichtung und Internationalisierung der Kommunikation, einer engeren Vernetzung größerer Teile der Welt. Aufgrund des "e-commerce" würde in Zukunft eine Kultur der Brinkmanship mit "stock options" und anderen Aktivitäten an der Börse wichtiger als irgendwelche Mitbestimmung. So würden Aktien interessanter als Kommunalobligationen werden. "In einer solchen Gesellschaft übernimmt eine ,globale Elite' die Führung, die viele Wochen im Jahr im Flugzeug sitzt, als ,Lingua franca' Englisch benutzt und deren modus vivendi ,any time - any place' heißt."

Im digitalen Kapitalismus bekämen die "Börsen eine zentrale Stellung, Zukunftswerte werden höher gehandelt als Sachwerte. Unfriendly take overs wie am Beispiel Vodafone/Mannesmann werden selbstverständlich. Das Klima wird rauher." Der Stärkere setze sich durch. Welche Folgerungen zieht Glotz daraus?

In der Zukunft bestimmend seien nur noch solche Unternehmen (oder auch Banken), die bei radikalem Personalabbau gleichzeitig hohe Gewinne einfahren. Natürlich gebe es da die "Gröhlbacken". Damit meint Glotz verächtlich diejenigen Gewerkschafter und Arbeitnehmer, die "bodenständig" das Ziel der "Vollbeschäftigung" verfolgen und sich zu Recht gegen diese Art des Raubtierkapitalismus zur Wehr setzen.

Dem hält Glotz das Konzept des "Jobless Growth" entgegen. So habe der Konzern ABB durch Umstrukturierung Mitte der 90er Jahre 50 000 Beschäftigte freigesetzt und gleichzeitig den Umsatz des Konzerns um 60% gesteigert. Siemens verringerte den Personalstand im Inland von 238 000 auf 197 000 und habe durch entsprechende Optimierungsprogramme in fünf Jahren Einsparungen von 30 Mrd. Mark erreicht - während die Deutsche Telekom zwischen 1992 und 1998 44 781 Arbeitsplätze abgebaut habe.

(Als Glotz sein Buch schrieb, erlebte die Telekom und mit ihr die gesamte New Economy Bubble ihr Waterloo an den internationalen Aktienmärkten. Insgesamt lösten sich seit März 2001 sowohl in den USA wie in Europa 16 Billionen Dollar an New Economy Aktien in Wohlgefallen auf.)

Aber auch der Versicherungssektor werde 80% des Innendienstpersonals, das sind etwa 200 000 Menschen, abbauen. Studien zufolge würden 40% der Bankbediensteten, 45% der Sekretariatsarbeiten und 25-75% aller Bürotätigkeiten wegfallen.

Glotz benutzt zwar nicht ausdrücklich den Begriff "Reproletarisierung", aber er meint genau das, wenn er schreibt: "Es bildet sich ein Zweidrittelblock, der ganz gut zu leben hat, in den oberen Etagen sogar brillant. Es bleibt aber ein drittes Drittel übrig, eine neuartige Unterschicht. Und woraus besteht die? Einerseits aus den Ausgegrenzten, den Arbeitslosen, den sozial wirklich Schwachen. Zum anderen aber aus freiwilligen Absteigern. Das ist das Phänomen des Downshifting." Es werde weniger Erwerbsarbeit geben als heute, weniger wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Aber Arbeit werde genug da sein - nur nicht Erwerbsarbeit, sagt Glotz: "Die Gesellschaft wird ihre Energien in non-profit-Organisationen stecken" - sogenannte grassroots-Bewegungen oder virtual communities würden wachsen.

Deregulierung

In einem Nationalstaat, der zunehmend "entmächtigt" werde, und angesichts einer deregulierten Ökonomie, welche immer mehr Arbeitsplätze vernichte, sagt Glotz neue gesellschaftliche Konflikte voraus: "Die Gewaltaktionen der rechtsradikalen Jugendschlägerbanden sind die bewußtlose Antwort von Modernisierungsverlierern auf eine als ausweglos empfundene Situation. Noch präziser gefaßt: Die hohen Arbeitslosenzahlen und die Entindustrialisierung im Osten Deutschlands machen die Modernisierungsverlierer zu einem möglichen Resonanzboden für die Gewalttaten. Gnade uns Gott, wenn diese Modernisierungsverlierer in Deutschland einen Führer fänden," schreibt Glotz, der sich (wie schon erwähnt) interessanterweise als führender SPD-Mann, nachdem die NPD in Sachsen 9% erhalten hatte, demonstrativ vor den Kameras von N 24 zum Dialog mit Udo Voigt traf.

Glotz gibt sich als überzeugter Malthusianer und Anhänger der Dogmen des Club von Rome zu erkennen, indem er den vom Mitbegründer des Club von Rome und Autor der Grenzen des Wachstums, Dennis Meadows, verwendeten Begriff der "Nachhaltigkeit der Ökonomie" in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt: Meadows zufolge, so Glotz, ist "eine Gesellschaft dann nachhaltig..., wenn sie so strukturiert ist und sich so verhält, daß sie über alle Generationen existenzfähig bleibt, daß sie ihre eigenen materiellen und sozialen Existenzgrundlagen nicht unterminiert. Im Sinne der Systemforschung ist eine Gesellschaft nachhaltig, wenn sie ausreichend Informations-, Sozial und Verwaltungsstrukturen besitzt, die in der Lage sind, die positiven Rückkoppelungen zu exponentiellem Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum so zu kontrollieren, daß ,Fertilität etwa gleich der Mortalität' ist und die Investitionsraten etwa den Raten der Kapitalabnutzung entsprechen."

Zugleich malt Glotz die Zukunft einer Gesellschaft an die Wand, in der das Prinzip des "hire and fire", der Teilzeitarbeit anstelle eines festen Berufes, zur Norm wird - er nennt es "Dejobbing": An die Stelle fester Berufsbilder und einigermaßen dauerhafter Jobs treten darin mehr und mehr zeitlich befristete, oft auch in Teilzeit verrichtete Tätigkeiten: "Schon heute ist das größte Unternehmen der Vereinigten Staaten nicht mehr General Motors (365 000 Beschäftigte) oder IBM (330 000), sondern die Teilzeitagentur MANPOWER (565 000)...Kann sich der europäische Sozialstaat auf die unvollständigen Rentenbiographien einstellen, die da entstehen?"

Unis an die Börse!

Die zweite Speerspitze des Angriffs richtet Glotz gegen das klassisch-humanistische Bildungssystem, das, wie es bei Glotz heißt, den Massenandrang an den Universitäten nur verstärkt und das Wissensniveau verwässert habe. In seinem Buch hebt Glotz vor allem die von Bertelsmann AG, Telekom und Bundesministeriums für Bildung und Forschung 1996 in Nordrhein-Westfalen eingeleitete "Aktion Schulen ans Netz" hervor. Dies sei lediglich der Beginn, und "Symbolanalytiker werden dafür sorgen müssen, daß in Zukunft die Kinder die notwendige Media und Computer Literacy erwerben, ein allzu hoher Teil wird aber zu Generation X excluded". Derselbe Glotz war, wie er in seinem Buch Die beschleunigte Gesellschaft anmerkt, Moderator des von der Bertelsmann-Stiftung ins Leben gerufenen Expertenkreises "Hochschulentwicklung durch neue Medien", in dem postmoderne Szenarien für das Hochschulwesen entwickelt wurden.

"Die europäische Universität ist eine staatliche Institution, kameralistisch bewirtschaftet, regional verankert, ehrenamtlich geführt, in Zünften organisiert", schreibt er verächtlich. In einem internationalen Bildungsmarkt werde dieser Typus der Hohen Schule nicht bestehen können. Statt dessen seien immer mehr die "Brutstätten für Marketing Experten (Branding), Analysten (Market Research), Wirtschaftsinformatiker (Complexity Management) oder Designer digitaler Produkte", gefragt: "Solche Brutstätten leben von einer besonderen Atmosphäre, von besonderen Lehrern, Forschern, von einem besonderen Profil."

Die Regionaluniversitäten würden dementsprechend ihre Bedeutung verlieren. Die Hochschulen müßten sich "Profile" zulegen, d.h. "Unique Selling Propositions". Damit sind renommierte Gelehrte, oder hochbezahlte CEOs irgendwelcher Unternehmen gemeint, wie es sie in den USA gibt. "Aus Universitäten, die wie Regierungspräsidien und Eichämter geführt werden, müssen klug gemanagte Unternehmen" werden, so Glotz.

Die Folgerung: Die Hochschulen müssen privatisiert und dereguliert werden: "Einige Bundesländer sollten den Mut haben, die eine oder andere Spitzenuniversität nach dem Vorbild der Telekom und Post zuerst zu privatisieren und mittelfristig an die Börse zu bringen."

Beispiele wären die Technische Universität München, die Humboldt-Universität in Berlin oder die sich durch hohe fachliche Qualität auszeichnende Rheinisch-Westfälische Technische Hochschule Aachen. Diese erfolgreichen Universitäten könnten, von bürokratischer Gängelung, notorischer Mittelknappheit und deutschem Beamtenrecht befreit, in wenigen Jahren zu ernstzunehmenden Konkurrenten der universitären Weltunternehmen mit großem Markennamen werden.

Außerdem müßten den Universitäten ihre Grundstücke, Gebäude und Großgeräte übereignet werden. Die Länder müßten risikoscheue Professoren versetzen. Sollte dies nicht gelingen, dann gerate Europa in der Wissensökonomie des 21. Jh. unter die Räder. "Denn in einem weltweiten Bildungsmarkt zählen die Markennamen, die Brands", also Namen wie London School of Economics oder Stanford University. Neben den Hochschulen gelte es, neue Konkurrenten - sogenannte "Corporate Universities" - entstehen zu lassen, d.h. Weiterbildungsorganisationen großer Unternehmen und private Weiterbildungsunternehmer, die so sehr das Feld übernehmen, daß die Universitäten nur noch eine Grundausbildung, den "bachelor" geben.

"Das Abendland muß nicht untergehen. Aber ohne eine klug eingefädelte und hart durchgesetzte Reformpolitik versteinert die europäische Universität. Die schwächeren Provinzuniversitäten in Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich oder der Tschechischen Republik sind schon heute gleichgültige Berufsschulen für die mittleren Jobs der jeweiligen Region." Die Idee vom Großen Wurf solle man sich aus dem Kopf schlagen. "Die Chance liegt nur im Losbinden der Hochschulen, in der Freisetzung von Konkurrenz, im Überlebenskampf auf hoher See. Man muß die Boote aus dem Hafen scheuchen und riskieren, daß ein paar absaufen. Die meisten werden seetüchtig werden, und einige können ums Blaue Band antreten... Losbinden hieße Budgetierung, also Befreiung von kameralistischer Haushaltssteuerung durch die Bürokratie... Funktionieren kann das nur, wenn die Hochschulen ein Management mit Ellenbogenfreiheit, also neue Leitungsstrukturen bekommen."

Statt Professoren im alten Stile brauche man heute "Mentoren, die sich fürs 'coaching' nicht zu gut sind". In den USA seien die Präsidenten der Universitäten hochbezahlte CEOs mit 750 000 Dollar Einkommen. Gleichermaßen fordert Glotz, die Gebührenfreiheit an den Universitäten aufzuheben. Denn Studiengänge seien Bildungsprodukte - und je besser diese seien, um so teurer seien sie.

Wertewandel

Mit einer am digitalen Kapitalismus ausgerichteten Bildung gehe ein entsprechender Wertewandel einher: "Das Bildungssystem der Industriegesellschaft war auf Vermittlung sprachlicher, naturwissenschaftlicher, technischer und literarischer Inhalte gerichtet. Die Schulung von Kreativität, sozialer Kompetenz oder Teamarbeit war zweitrangig." Auf keinen Fall werde in der Erziehung der schöpferische Querdenker oder die "autoritäre Persönlichkeit" (ein von Theodor Adorno verwendeter Begriff, mit der dieser nach dem Kriege eine Kulturoffensive gegen eine auf klassischem Wertekanon basierende Gesellschaft einleitete) gebraucht. Verlangt und zur Verwertung gerade recht sei in der digitalen Gesellschaft hingegen der egoistische Anpassertypus: "Wurstigkeit, Chuzpe, Organisationsbegabung, Einordnung, Fleiß, Disziplin."

Bildung bedeutet hier offenbar nicht mehr philologisch-historisches Wissen (u.a. Goethe etc.) und technische Bildung, sondern "handeln können" - und zwar handeln können in bezug auf ein gelingendes Leben der Menschen untereinander, nicht nur als technische Verfügungsgewalt. Und sollten die europäischen Universitäten versagen, dann - so die Prognose - würden DaimlerChrysler, Bertelsmann und die Deutsche Telecom sich ihre eigenen Universitäten stricken.

Damit einhergehend werde auch die "klassische Öffentlicheit" abnehmen - ein direkter Affront gegen die klassische Kultur. Die literarische Öffentlichkeit müsse sich vor Elitismus, Hochmut und Verkapselung hüten: "Es geht nicht um Goethe, Heine, sondern die Stichworte heißen: ,Komplexitätsbewältigung, Kommunikationsfähigkeit, interkulturelle Sensibilität, Kooperationsfähigkeit'."

Die neuen Eliten könnten sich nicht durch "klassische Wertetafeln und den Rückgriff auf einen jahrhundertelang bewährten Fundus behaupten".

Außerdem heißt es bei Glotz, es werde unbequem und kostentreibend sein, wenn man mit den neuen Medien nicht umgehen könne: "Wenn die echte Vernetzung einer Gesellschaft 40% erreicht hat, gibt es kein Halten mehr. Der ,Illiterat' wird, selbst wenn er die Duineser Elegien von Rilke auswendig kennt, zur (bestenfalls wohlwollend geduldeten) skurrilen Figur oder zum Outcast: An einem Alten, der sich vergeblich bemüht, dreihundert Mark aus dem Bankautomaten zu leihen, hasten die Massen gleichgültig verächtlich vorüber." Ähnlich ergehe es einem kaufmännischen Angestellten, der "Word" oder "Excel" nicht beherrscht. "Der Homo connectus muß seine connectivity mühsam erwerben, sonst versagt er, bleibt er ausgeschlossen."

Glotz, der sich in seinen früheren Schriften einer gewissen Faszination Nietzsches - "einer der scharfsichtigsten Kritiker der Massenkultur" - nicht erwehren kann und ein ambivalentes Verhältnis gegenüber Heideggers Technikkritik empfindet, rundet sein Weltbild, in dem der Stärkere überlebt, mit der Feststellung ab, daß Augustinus' Satz, wonach "ungerechte Staaten sich in Räuberbanden" verwandeln, in der Zukunft nicht gelte. Es gebe keine am Naturrecht orientierte Gerechtigkeit, sondern allenfalls viele verschiedene.


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