August 2004:
In unserer Rubrik über den Dialog der Kulturen veröffentlichen wir eine besonders wichtige Dokumentation über das geistige Leben des harten Kerns des Widerstandes gegen die Nazi-Diktatur, welche für uns heute recht überraschend sein dürfte.
Zur Staats- und Wirtschaftsidee des "Kreisauer Kreises"
Im etwas abgelegenen Berghaus auf dem Moltkeschen Gut Kreisau fanden zu Pfingsten 1942, im Oktober 1942 und zu Pfingsten 1943 als Familientreffen getarnte Tagungen über die Neuordnung Deutschlands nach dem Kriege statt. Michael Liebig von Landesverband Rheinland-Pfalz schildert die damaligen Bemühungen.
Bei aller Verschiedenheit der sie von Haus aus prägenden Weltanschauungen forderten die Männer und Frauen des Kreisauer Kreises übereinstimmend, nach dem Ende des Naziregimes müßten Staat und Gesellschaft vom christlichen Naturrecht geprägt sein. So klar sie den totalitären Willkürstaat nationalsozialistischer oder kommunistischer Provenienz zurückwiesen, so unmißverständlich erklärten die Kreisauer auch, daß der Staat nicht zum Spielball privater wirtschaftlicher Interessen, zum "liberalen Nachtwächterstaat" verkommen dürfe.
Sie sahen die Rolle des Staates so: "Zweck des Staates ist und muß bleiben die bewahrende, beschützende, helfende und schöpferisch entwickelnde Förderung des bonum commune... Die Amtsträger des Staates müssen sich dem wahren Gemeinwohl und nicht dem Nutzen einer Klasse oder Partei verpflichtet wissen." Dazu "bedarf es einer echten Autorität, die führen kann und will."2
Wenn der Kreisauer Kreis nach innen und nach außen das Gemeinwohl als das zentrale Staatsziel definierte, so beließ er es nicht bei diesem allgemeinen Postulat. Man erkannte, daß die unabdingbare Voraussetzung staatspolitischen Handelns im Sinne des Gemeinwohls die "innere Entwicklung einer metaphysischen und moralischen Besinnung" in der ganzen Bevölkerung sein müsse. Besonders aber der Staatsmann dürfe "nicht am religiösen Raum uninteressiert sein", denn nur von daher lasse sich die notwendige "moralische Besinnung" erreichen.
Es ist aber für uns heute geradezu revolutionär und zutiefst verblüffend, wenn in den Kreisauer Dokumenten die christliche Liebe (caritas) als Gestaltungsprinzip der Staatspolitik definiert wird: "Die Liebe ist keine private Angelegenheit. Sie ist das Staatsgrundgesetz von morgen; sie macht uns verantwortlich für jeden anderen und ist die Mutter der Gerechtigkeit. Wir sind es nicht mehr gewöhnt, die Liebe von hierher zu erwägen. Das kann nicht hindern, sie als das entscheidende Ordnungspotential der Zukunft zu erkennen." Es müsse die Aufgabe der Staatsführung sein, "unter Beweis zu stellen, daß die Liebe (die Hingabe an die Gemeinschaft in jeder Form) ein ordnendes Staatsgrundgesetz" und keineswegs nur ein "Satz des Gefühls" sei.
Für eine Staatspolitik auf Basis der christlichen caritas mit der Zielsetzung des bonum commune komme der Erziehungs- und Bildungspolitik eine herausragende Bedeutung zu.
Das Gemeinwohl ist aber keineswegs auf die Gestaltung der Staatspolitik im Inneren beschränkt. Die Außenpolitik muß sich gleichermaßen von dem Ziel des Gemeinwohls leiten lassen, denn der Staat hat gegenüber dem "Weltganzen" eine gleichermaßen naturrechtlich begründete Verantwortung. "Jeder Staat muß mitarbeiten an einer gerechten Ordnung der Welt und hierfür einen besonderen Beitrag leisten."
Das außenpolitische Schwergewicht des deutschen Widerstandes lag naturgemäß in Europa. Vor allem anderen ging es um die Schaffung einer stabilen europäischen Friedensordnung. "Aus vielfältigen Gründen muß im europäischen Raum das allgemeine zwischenstaatliche Ziel die organisatorische europäische Konkordanz sein. Nur so wird sich Europa gegenüber den anderen Kontinenten und Kontinentalmächten nachhaltig zu behaupten vermögen." Deutschland werde, "wenn es in seinem Aufbau den öden Zentralismus vermeidet, diese europäische Konkordanz weder stören noch erdrücken."
Die "Kreisauer" wußten genau, daß zur Erreichung des Ziels einer "europäischen Konkordanz" das Problem gelöst werden mußte, wie "Deutschland an den Verantwortungen und Möglichkeiten Europas voll beteiligt werden" kann, ohne daß "das natürliche Übergewicht Deutschlands" als Bedrohung seiner Nachbarländer empfunden werden würde. Dabei sei "keine Vertragskonstruktion" vorstellbar, die Deutschlands Nachbarstaaten "vor jeder möglichen Bedrohung schützt und gleichzeitig eine erträgliche Sicherung deutscher Lebensinteressen gewährleistet." Die "europäische Konkordanz" müsse ein "gleichberechtigter Zusammenschluß aller europäischen Staaten unter Preisgabe bestimmter, festumrissener Souveränitätsrechte auf militärischem, rechtlichem, außenpolitischem und wirtschaftlichem Gebiet" sein. Für die zu schaffende europäische Konkordanz gelte aber, wie "für jede Art von politischer Gestaltung", daß "die hinter ihr stehende Geisteshaltung bestimmend" sei.
Christentum und Wirtschaft
Aus der Bestimmung des Charakters und des Zwecks des Staates auf Grundlage des christlichen Naturrechts ergibt sich zwangsläufig auch das Verständnis des Wirtschaftslebens. In den Dokumenten des Kreisauer Kreises wird Wirtschaftsfragen breiter Raum gewidmet. Es wird "eine Gesamtschau der Wirtschaft" gefordert. Die richtige Bestimmung der Wirtschaftspolitik dürfe "weder im rein theologisch-philosophischen noch im sozialpolitisch-wirtschaftlichen Bereich verharren, sondern müsse die lebendige Mitte zwischen beiden wahrnehmen." Der Staat ist zu "organisierendem Handeln" auch und gerade in der Wirtschaft verpflichtet, denn es dürfe nicht zugelassen werden, "daß die Wirtschaft zum Selbstzweck wird. Sie ist ein Mittel zur Entfaltung und Sinngebung des Lebens, nicht sein Zweck." Die Wirtschaft habe die Aufgabe "der Wohlfahrt des Einzelnen und der Gemeinschaft zu dienen". Sie habe "eine doppeltes Gesicht: sie ist die Quelle der materiellen Güter des Lebens und Bestandteil der Lebensordnung; sie bestimmt durch die Funktion, die dem einzelnen im Wirtschaftsvorgang zukommt, wesentlich seine Stellung im Leben."
Die Wirtschaftsordnung, so wird in den Dokumenten des Kreisauer Kreises betont, müsse dazu dienen, "Menschen zum Menschen zu machen: wirtschaftliche Unordnung bedroht den Menschen mit Sorge und Not, mit Hunger, Elend und Arbeitslosigkeit." Umgekehrt bedrohe "ein Übermaß der staatlichen Eingriffe in die Wirtschaft" den Menschen, das einer "Vergewaltigung" der Menschen gleichkomme, "wie etwa am Beispiel der [stalinistischen] Zwangskollektivierung zu erkennen ist". Weder das "kapitalistische noch das kommunistische Extrem" seien akzeptabel. Es müsse eine qualitativ neue "Wirtschaftsgesinnung" geschaffen werden. Diese Wirtschaftsgesinnung müsse von den Deformationen befreit werden, die auf die liberalistisch-kapitalistische "Ungebundenheit" und kommunistische Klassenkampfideologie und Kollektivismus zurückgehe.
Die neue Wirtschaftsgesinnung und -ordnung müsse deshalb aus dem Begriff der "Freiheit des Menschen" abgeleitet werden. Der Mensch müsse befreit werden von "Arbeitslosigkeit und Not" und von "der Angst vor diesen Übeln". Aber "ohne daß ihm die Verantwortlichkeit für sein Schicksal oder seine persönliche Freiheit genommen wird... Freiheit und Pflicht sind komplementäre Begriffe."
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises beinhalten keinerlei sozialutopische "Konstruktionen" in Sinne einer Wunsch- oder Forderungsliste. Die Wirtschaftspolitik der Kreisauer ist sehr nüchtern und "realistisch". Der auf dem christlichen Naturrecht basierende Begriff des Gemeinwohls und des sozialökonomischen Fortschritts beinhaltet keinerlei "diesseitigen Heilserwartungen". Es gelte vielmehr das Potential der Menschen an schöpferischer Vernunft, das ihnen dadurch gegeben ist, daß sie "Abbild Gottes" sind, zu entwickeln. "Nur die Fähigkeit, jede Schöpfung Gottes, insbesondere aber jeden einzelnen Menschen ernst zu nehmen, wird es ermöglichen, dieser Aufgabe [der Schaffung einer neuen, gerechten und effizienten Wirtschaftsordnung] gerecht zu werden und dienend an der Gestaltung mitzuwirken. Hier liegt der Grund, auf dem jede Wirtschaftslenkung aufbauen muß."
Wirtschaftspolitische Leitsätze
Von diesen Axiomen ausgehend formulierte der Kreisauer Kreis folgende "Leit- und Grundsätze" zur Wirtschaftspolitik:
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Die Wirtschaft dient der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Wohlfahrt und Erhöhung des Volkes.
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Sinn der Wirtschaft ist die Deckung des echten Bedarfs, Ermöglichung eines menschenwürdigen Daseins der Bürger und Sicherung der wirtschaftlichen Existenz des Gesamtvolkes.
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Die Wirtschaft ist nicht über oder vor dem Staat. Die Wirtschaft ist für das Volk da, aber nicht das Volk für die Wirtschaft.
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Die Wirtschaft wird vom Staat gelenkt, aber nicht schablonisiert oder
mechanisiert.
- Die Wirtschaft des kommenden sozialen Staates wird eine gebundene
Wirtschaft sein. Die Aufgabe des Staates wird sich auf die große Planung, die Überwachung und die Durchsetzung der allgemeinen Grundsätze beschränken.
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Das Grundprinzip der Wirtschaft ist der geordnete Leistungswettbewerb.
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Träger des wirtschaftlichen Gebarens ist der Unternehmer; der Staat ist
grundsätzlich nicht Unternehmer.
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Freie Entschlußkraft und Selbstverantwortung des Unternehmers werden anerkannt.
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Soweit der am Markte - unter Mitwirkung eines volkswirtschaftlich
orientierten, aber freien Handelns - auszutragende Leistungswettbewerb und die darauf fußende Preisbildung zur Wahrnehmung der volkswirtschaftlichen Interessen nicht genügt, hat der Staat für die erforderliche Ergänzung zu sorgen.
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Einkünfte, die in ihrer Höhe und ihrer Art dem volkswirtschaftlichen Ziele nicht dienen, sind grundsätzlich zu bekämpfen. Vordringlich ist Neubildung von volkswirtschaftlichem Kapital. Soweit Zins und Renten als Einkommenskategorien diese Aufgabe zweckmäßig lösen helfen, sind sie... zu billigen.
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Die Arbeit muß so gestaltet werden, daß sie die persönliche Verantwortungsfreudigkeit fördert und nicht verkümmern läßt.
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Ziel der Volkswirtschaft ist nachhaltige Steigerung des realen
Arbeitseinkommens unter Förderung der moralischen und körperlichen Kräfte des Volkes...
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Statt "Expropriation der Expropriateure" muß das Ziel lauten: Entproletarisierung des Proletariats.
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Aller Besitz ist sozial gebunden, d.h. Verwendung, Art der Verwaltung und Verwertung aller materiellen Güter werden primär durch die allgemeinen Anliegen der Sicherung der wirtschaftlichen Existenz des Gesamtvolkes und der Garantie des Existenzminimums für alle bestimmt. Diese soziale Bindung kann in bestimmten, genau zu prüfenden und vorsichtig abzuwägenden Fällen bis zur Vergesellschaftung führen.
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Die Betriebe der öffentlichen Hand sind nach den allgemeinen für die Wirtschaft geltenden Grundsätzen zu führen und zu beaufsichtigen.
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Arbeitgeber und Arbeitnehmer bilden in jeden Betrieb zur Förderung der
Betriebe und der kameradschaftlichen Zusammengehörigkeit eine
Arbeitsgemeinschaft.
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Die innerbetriebliche Lebens- und Rechtsordnung regelt die Stellung aller am Unternehmen beteiligten Menschen im Unternehmen... Kurz, auf alle Fragen der innerbetrieblichen Lebensweise hat die Arbeiter- und Angestelltenschaft grundsätzlich einen rechtlich begründeten Einfluß.
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Die Organe der Arbeiter- und Angestelltenschaft werden in innerbetrieblicher Wahl direkt festgestellt.
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Die wirtschaftliche und technische Geschäftsführung untersteht zwei indirekten Kontrollorganen: einmal der allgemeinen Wirtschaftsüberwachung des Reiches und alsdann den Organen, die für die Einhaltung der innerbetrieblichen Lebens- und Rechtsordnung zuständig sind.
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Eine dauerhafte Eigentumsbildung muß für alle Schichten des Volkes möglich sein und darf nicht durch Überbelastung des Einkommens durch den Staat dauernd gefährdet werden.
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Garantie eines Minimaleinkommens für alle Familien, das sich aus Lohn und allgemeinen Leistungen zusammensetzt... Der verheiratete Arbeiter genießt rechtliche Garantie eines höheren Existenzminimums, da die Familie allgemeines Anliegen ist.
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Dies alles bedingt neben Durchsetzung der Forderungen ausgleichender und sozialer Gerechtigkeit die Pflege echten Gemeinschaftsgeistes (Solidarität), und zwar durch Erhebung in die Ordnung der christlichen Liebe und Brüderlichkeit, wie das ja schon stark in [der päpstlichen Enzyklika] Rerum novarum betont wird.
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Wenn auch heute - nicht zuletzt infolge der notwendigen Einordnung der einzelnen Betriebe in die Gesamtwirtschaft von umfassenden Großräumen - das Gemeinwohl mehr als früher eine staatliche Lenkung der Wirtschaft erfordert, so sollte doch nach Möglichkeit die freie Selbstbetätigung und die recht verstandene Selbstverwaltung der Wirtschaftskörper gewahrt bleiben.
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Analog zum politischen Aufbau wird der Aufbau der wirtschaftspolitischen Selbstverwaltung gegliedert in die unterste Einheit der Betriebes (Gemeinde), die mittlere Einheit des regionalen Wirtschaftsbereiches (Kreis), die höhere Einheit des Wirtschaftsgebietes (Land), die höchste Einheit der Volkswirtschaft (Reich). Auch hier gilt der [Subsidiaritäts-]Grundsatz, alles was möglich ist, durch die jeweilige untere Einheit erledigen zu lassen.
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Alle in der Wirtschaft tätigen Menschen haben gleiche Mindestpflichten zu erfüllen. Zu diesen Mindestpflichten gehören Ehrlichkeit und Sauberkeit in der Wirtschaftsführung, Vertrags- und Arbeitstreue im Rahmen der abgeschlossenen Verträge.
Solidarität und Gerechtigkeit
Die wirtschaftspolitischen Vorstellungen des Kreisauer Kreises laufen eindeutig auf eine "dirigistische", "soziale" und wettbewerbsorientierte Marktwirtschaft hinaus. Geprägt durch die Grunderfahrung der Weltwirtschaftskrise, deren verheerende wirtschaftliche, soziale und politische Folgen die Nazi-Diktatur überhaupt erst möglich machten, wird das Wirtschafts- und Sozialmodell der "freien Marktwirtschaft" klar abgelehnt. Die Zurückweisung der sozialökonomischen "Ungebundenheit" der Zwischenkriegszeit ist kategorisch. Dem Staat wird, unter Betonung des Subsidiaritätsprinzips, eine zentrale wirtschaftspolitische Rolle zugewiesen.
Der Staat als Repräsentant des Gemeinschaftsinteresses kann dem Einzelnen sehr wohl zumuten, "der Gemeinschaft sehr bedeutende wirtschaftliche Opfer zu bringen (Steuer, Enteignung, Aufopferung)". Die Art dieser Leistung für die Gemeinschaft müsse "aber genau geregelt und jeder Willkür entzogen sein". Jedes "außerordentliche Opfer, daß nur dem Einzelnen zugemutet wird, [darf] wirtschaftlich nicht unangemessen zu seinen Lasten gehen".
Anderseits müsse "das Lohnproblem, das Problem der Altersversorgung, der Familienobsorge und das gesamte soziale Problem (Wohnungsbau, Kinderförderung, Förderung der Ausbildung) nicht von dem Gedanken des Almosen und des Mitleides, sondern der Gerechtigkeit" angegangen werden. Daß dirigistische Wirtschaftspolitik des Staates im diametralen Gegensatz zum System der kommunistischen Zentralverwaltungswirtschaft steht, ist für den Kreisauer Kreis selbstverständlich.
Es ist unschwer zu erkennen, daß für die Wirtschaftspolitk des Kreisauer Kreises folgende ideengeschichtliche Quellen eine besondere Rolle gespielt haben:
1. Das Konzept der subsidiaren politisch-administrativen wie sozialökonomischen Selbstverwaltung geht auf den Freiherrn vom Stein und die preußischen Reformen zurück.
2. Die realwirtschaftlich orientierte, dirigistische Wirtschaftspolitik orientiert sich an Friedrich List.
3. Die Sozialpolitik ist wesentlich von der katholischen Soziallehre, die zuerst von Papst Leo XIII in der Sozialenzyklika Rerum novarum formuliert wurde, bestimmt.
4. Gleichermaßen geht der Begriff der Solidarität auf die Ideen des "personalen Sozialismus" (ein in den Kreisauer Dokumenten mehrfach gebrauchter Ausdruck) und die Reformpolitik der demokratischen Arbeiterbewegung zurück.
Der Kreisauer Kreis sah denn auch in der demokratischen Arbeiterbewegung und den im Christentum verwurzelten politischen und sozialen Kräften die Katalysatoren und natürlichen Führer des Wiederaufbaus Deutschlands und Europas. Nur diese Kräfte seien zur notwendigen "Gesamtschau" des Wirtschaftslebens und der zur Schaffung einer neuen "Wirtschaftsgesinnung" in der Lage. "Die Erfahrung der ganzen Sozialreform seit nunmehr fast 100 Jahren hat gelehrt, daß allein von der sozialen Gesetzgebung her der soziale Friede nicht geschaffen werden konnte, sondern höchstens ein sozialer Waffenstillstand. Vor allem gilt es, den rechten Gemeinschaftsgeist zu pflegen, um den Klassenhaß zu tilgen, die Interessengegensätze auszugleichen und so die Wurzeln der Klassenkämpfe zu beseitigen. Darum muß unablässig all das gefördert werden, was der Gemeinschaft dient, was Gemeinsames hervorhebt und unterstützt, was auf das - so oft als Ziel genannte - Gemeinwohl nicht nur mittelbar, sondern unmittelbar hinzielt: über die Familie hinaus auf Nachbarschaft, Gemeinde in Dorf und Stadt, vor allem auf das Volksganze. Die echten Werte des Volkes, der Nation müssen auch von unserer Seite anerkannt und gepflegt werden. Wir können diese Dinge nicht ignorieren und immer noch allein mit den Begriffen Staat und Gesellschaft arbeiten."
Europäische Konkordanz
Parallel zu den außenpolitischen Plänen zur Schaffung einer europäischen Friedensordnung entwickelte der Kreisauer Kreis programmatische Vorstellungen für einen europäischen Wirtschaftsraum. "Der kommende Friede kann nur dauerhaft sein, wenn die Wirtschaft den politischen Bedürfnissen gemäß richtig geordnet wird." Dieses "politische Bedürfnis" beruhe darauf, daß es ohne Schaffung einer neuen Wirtschaftsordnung "keine Stabilität der gesellschaftlichen Verhältnisse innerhalb der Staaten, keinen Frieden zwischen den Staaten [geben werde]. Daher kann der Staat die Wirtschaft nicht alleine nach einer Lösung suchen lassen." Daraus ergebe sich folgende Aufgabenstellung: "Dem Ziele nach ist Europa als wirtschaftliche Einheit zu betrachten. Das Ziel muß ohne Einheitsschema angestrebt werden. Hemmende Zollschranken sind allmählich abzubauen.
Auch bezüglich der angestrebten Wirtschaftspolitik für ein zusammenwachsendes Europa wurden vom Kreisauer Kreis Leitlinien entwickelt:
- Die europäischen Länder müssen sich zu einer Arbeitsteilung
zusammenfinden, welche ein gleichmäßige Entwicklung der produktiven Kräfte gewährleistet. Auf diese Weise kann die Not der Nachkriegszeit durch eine intensive Aufbauarbeit überwunden werden.
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Die europäische Wirtschaft muß von den überkommenen nationalstaatlichen Beschränkungen befreit werden. Ihr Grundprinzip ist der geordnete Leistungswettbewerb, der sich unter Aufsicht einer europäischen
Wirtschaftsführung vollzieht.
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Weitere Aufgaben dieser europäischen Wirtschaftsführung bestehen darin, durch Lenkung der Schwerindustrie, Beaufsichtigung der europäischen Kartelle und andere mittelbare Maßnahmen, insbesondere der Steuer-, Kredit-, und Verkehrspolitik das Zusammenwachsen der einzelnen Volkswirtschaften Europas zu einer organischen und gegliederten Einheit herbeizuführen.
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Bei der äußerst wichtigen Neuordnung der Währungen und Stabilisierung neuer Kaufkraftparitäten kann in Hinblick auf die weltwirtschaftliche Verflechtung das Gold nicht ganz ausgeschaltet werden.
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Im Interesse eines nutzbringenden Zusammenarbeitens der Volkswirtschaften und eines reibungslosen Ineinandergreifens aller volks- und weltwirtschaftlichen Kräfte sind alte und neue politische Schulden zu streichen; die verhängnisvolle Wirkung der Reparationen nach dem ersten Weltkrieg darf nicht vergessen werden.
Über die Schaffung eines europäischen Wirtschaftsraums hinaus, strebte der Kreisauer Kreis die Herausbildung einer neuen Weltwirtschaftsordnung an. Vor allem Adam von Trott zu Solz verfügte durch ausgedehnte Reisen über profunde politische und wirtschaftliche Kenntnisse der Vereinigten Staaten und des asiatischen Raumes. Er verbrachte viele Monate in den USA, sowie in China und Japan. So konnte der Kreisauer Kreis die enorme wirtschaftliche Entwicklungsdynamik des asiatisch-pazifischen Raumes voraussehen.
Anmerkungen
1. Der Text ist eine gekürzte, überarbeitete Fassung eines früheren Artikels, der unter dem Titel "Christentum, Staat und Wirtschaft" zuerst in Neue Solidarität Nr. 15/1995 erschien.
2. Dieses und die folgenden Zitate aus Kreisauer Dokumenten zitiert nach: Dossier: Kreisauer Kreis, Dokumente aus dem Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Aus dem Nachlaß von Lothar König SJ, Frankfurt/M., 1987.
3. Vgl. Denkschrift von Schmölders, "Wirtschaft und Wirtschaftsführung nach dem Kriege" (1942/43) in: Günter Brakelmann (Hrsg.), Der Kreisauer Kreis, Schriftenreihe der Forschungsgemeinschaft 10. Juli 1944 e.V., Bd. 3, Lit-Verlag, Münster 2003.
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