Elisabeth Hellenbroich vom Landesverband Reinland-Pfalz und Elisabeth Neudecker haben sich damit befasst.
Das neue Buch des Papstes "Erinnerung und Identität" geht auf Gespräche zurück, die Johannes Paul II. 1993 mit den beiden polnischen Philosophen Jozef Tischner und Krzysztof Michalski führte. Der Papst versucht, eine theologische Antwort auf die Frage nach der Ursache des Bösen zu geben, das sich vor allem während des 20. Jh. in den zerstörerischen Ideologien des Nationalsozialismus und des Kommunismus ausdrückte und einen verwüsteten Kontinent hinterließ. Über biographisch und historisch-politische Ereignisse hinaus richtet der Papst seinen Blick immer wieder auf die biblische Heilsgeschichte. Seine Kernthese lautet, daß der Mensch ohne Gott "allein gelassen" und seine Identität bedroht sei. Das Böse - so zeigt er in Anlehnung an den Hl. Augustinus und Thomas von Aquin - ist der Mangel, das "Fehlen von etwas Gutem".
Der Boden dafür sei durch bestimmte reduktionistisch- utilitaristische Strömungen bereitet worden; das schließe Ansätze im Denken von Descartes ein und reiche bis zu den radikalen Utilitaristen Jeremy Bentham und John Stuart Mill, die als Antrieb nur das egoistische Interesse des Einzelnen oder einer Gruppe gelten ließen. Dies führe zu einer immer stärkeren Loslösung des Denkens von seiner an einer höheren Wahrheit ausgerichteten, "metaphysischen" Bindung. Indem Gott nicht länger als "sich selbst genügendes Sein" (Ens subsistens) gesehen wurde, sei er als Schöpfer aller geschaffenen Wesen, also auch des Menschen, verneint worden. Dies habe der "Relativierung" grundlegender Wahrheiten Tür und Tor geöffnet.
Mit beigetragen zur Relativierung der Werte hätten zwei weitere, die heutige Zeit prägende Grundauffassungen: Zum einen schlage eine übersteigerte Eigenliebe sich im gesellschaftlichen Handeln immer rabiater nieder; zum anderen erlebten wir Menschen, die zum Kreuzzug gegen das Böse aufrufen und sich dabei fundamentalistisch auf ihren Gottesglauben berufen. (Ein sinnfälliges Beispiel für dies Art selbstgerechten Fundamentalismus ist Präsident George W. Bush - Anm. E.H..)
Wenn ein nur von Eigenliebe bestimmter Mensch, so der Papst, "alleine ohne Gott entscheiden kann, was gut und böse ist, dann kann er verfügen, daß eine Gruppe von Menschen zu vernichten ist. Derartige Entscheidungen wurden z.B. im Dritten Reich gefällt von Menschen, die, nachdem sie auf demokratischem Wege zur Macht gekommen waren, sich dieser Macht bedienten, um die perversen Programme der nationalsozialistischen Ideologie zu verwirklichen, die sich an rassistischen Vorurteilen orientierten." Vergleichbare Entscheidungen seien auch in der Sowjetunion (siehe Stalins brutales Vorgehen gegen die Bauern in der Ukraine) und in den der marxistischen Ideologie unterworfenen Ländern von der kommunistischen Partei getroffen worden. "Nach dem Sturz der Regime, die auf den Ideologien des Bösen aufgebaut waren, haben in ihren Ländern die eben erwähnten Formen der Vernichtung de facto aufgehört. Was jedoch fortdauert, ist die legale Vernichtung gezeugter, aber noch ungeborener menschlicher Wesen. Und diesmal handelt es sich um eine Vernichtung, die sogar von demokratisch gewählten Parlamenten beschlossen ist, in denen man sich auf den zivilen Fortschritt der Gesellschaften und der gesamten Menschheit beruft." (Man beachte: Entgegen der in der letzten Woche von vielen Seiten vorgebrachten lautstarken Polemik werden hier der Holocaust und die Abtreibung nicht auf eine Stufe gestellt!)
Betrachte man die Erfahrung des Bösen in den Konzentrationslagern, den Gaskammern und inmitten der Grausamkeit des totalen Krieges, so habe es den Anschein, als sei das Böse stärker als das Gute. Dennoch zeige die Geschichte immer wieder, daß Menschen größer seien als ihr Schicksal. Das Opfer des polnischen Franziskanerpaters Maksymilian Kolbe, der sich im Vernichtungslager Auschwitz opferte, um das Leben eines anderen Mitgefangenen zu retten, sei ein Zeichen des "Sieges über das Böse"; ebenso beeindruckend sei die Lebensgeschichte der Philosophin Edith Stein, "die das Schicksal vieler Söhne und Töchter Israels teilte und im Krematorium in Birkenau verbrannt wurde".
Für einen Menschen wie Maksymilian Kolbe - und dieser steht für viele Menschen, die heute Widerstand leisten gegen jegliche menschenverachtende Form von Totalitarismus - liege die Rechtfertigung seines Handelns nicht in der buchstabengetreuen Befolgung des "Gesetzes", sondern in der Kraft der "Liebe": der Liebe zu Gott und dem Nächsten. Die Liebe sei der Quell der Freiheit des Menschen, die wiederum nicht zu trennen sei von der Wahrheit. In der heutigen Zeit werde nach allen Seiten eine Freiheit ohne Kriterien und ohne ethische Bindung gefordert, moniert der Papst. Beispielhaft für diese Einstellung sei das an der Auffassung der Utilitaristen Jeremy Bentham und John Stuart Mill orientierte Handeln des Menschen, der lediglich den "Nutzen" bzw. die "Glückserfahrung" sucht. Und obgleich Immanuel Kant diese Art des radikalen Nützlichkeitsdenkens abgelehnt und mit seinem "kategorischen Imperativ" den Pflichtcharakter der moralischen Entscheidungen des Menschen hervorgehoben habe, habe er dennoch das Fundament der Moral, das "Bonum honestum", vernachlässigt.
Das Böse, dessen Urheber und Opfer der Mensch ist, stoße, wie die Geschichte gezeigt habe, an eine Grenze, und diese Grenze sei die Liebe. Als Ebenbild Gottes sei der Mensch eingebunden in die Schöpfungsordnung. Er habe den in der Genesis dargelegten Auftrag, sich zu vermehren, sich die Erde untertan zu machen und mithilfe seiner physischen und wissenschaftlichen Arbeit und der Kultur das Universum zu bereichern und zum Fortschritt des Ganzen beizutragen.
Der Papst nimmt dies zum Ausgangspunkt für eine weitere Reflexion über die Begriffe "Vaterland", "Nation" und "Staat". Dabei macht er am Beispiel der Geschichte Polens klar, daß es in den dunkelsten Zeiten Polens die Kraft der Kultur war, die im 19. Jh. eine nichtexistente Nation zusammenhielt und zur Quelle des Widerstand wurde: nehmen wir Schriftsteller wie Adam Mickiewicz, Julius Slowacki, Zygmunt Krasinski und Cyprian Norwid, oder Komponisten wie Frederic Chopin. Und es war gerade diese außergewöhnliche Zeit kultureller Reife, die der Nation zur Wiedererlangung ihrer Unabhängigkeit verhalf.
"Ich bin der Sohn einer Nation, welche die gewaltigsten Erfahrungen der Geschichte erlebt hat - einer Nation, die von ihren Nachbarn mehrmals zum Tode verurteilt wurde, die jedoch überlebt hat und sie selbst geblieben ist", schreibt der Papst. "Sie hat jedoch ihre Identität beibehalten und trotz der Teilungen und der ausländischen Besatzungen ihre nationale Eigenständigkeit bewahrt, indem sie sich nicht auf die Mittel der physischen Kraft stützte, sondern allein auf ihre Kultur. Diese Kultur hat sich im Bedarfsfall als machtvoller erwiesen als alle anderen Kräfte."
Mit ihnen habe sich auch die "Idee des Rechts" und der "Nation" weiterentwickelt. "Das Recht der Nation auf ihre Existenz, ihre eigene Kultur und auch auf die politische Souveränität war in jener historischen Epoche, d.h. im 18. Jh., für viele Nationen des europäischen Kontinents und auch außerhalb seiner Grenzen von besonderer Bedeutung. Das galt für Polen, das genau in jenen Jahren trotz der Verfassung vom 3. Mai 1791 zusehends seine Unabhängigkeit verlor. Das galt besonders jenseits des Ozeans für die Vereinigten Staaten von Amerika, die sich damals formierten. Es ist bezeichnend, daß diese drei Ereignisse - die Französische Revolution (1789-99), die Verabschiedung der Verfassung vom 3. Mai (1791) in Polen und die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika (4. Juli 1776) - in so kurzem zeitlichem Abstand voneinander geschahen." So hätten sich die Grundrechte von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durchgesetzt, und mit ihnen sei eine neue Geschichtsepoche eingeleitet worden.
Mit den Menschenrechten sei zugleich ein Grundsatz bekräftigt worden, der auf der "unantastbaren Würde" jedes Menschen aufbaut. Damit sei ein "Moralkodex" gegeben worden, wonach ein vom Menschen, von jeder menschlichen legislativen Instanz aufgestelltes Gesetz - Thomas von Aquin nannte das Gesetz eine "Verordnung der Vernunft, die im Hinblick auf das ,Gemeinwohl' erlassen wird" - nicht im Widerspruch stehen darf zum "natürlichen Gesetz", d.h. zum "ewigen" Gesetz Gottes.
Der Papst endet seine Reflexionen mit einem Rückblick auf die dramatischen Ereignisse des 13. Mai 1981. An jenem Tag wurde ein Mordanschlag gegen ihn ausgeführt, den er wie durch ein Wunder überlebte. Das Attentat sei eine der letzten "Zuckungen der Ideologien der Gewalt" gewesen, "die sich im 20. Jh. entfesselt haben". Der Attentäter Ali Agca - ein "professioneller Killer" - sollte ein Attentat ausführen, das "nicht seine Eigeninitiative war"; jemand anderes hatte es "geplant" und ihn damit "beauftragt". Der zwischen Leben und Tod schwebende Papst hatte nur geringe Überlebenschancen. Dennoch überlebte er das Attentat, und Ali Agca fragte den Papst bei den Begegnungen mit ihm im Gefängnis immer wieder, wieso ihm der Anschlag trotz minutiöser Planung nicht gelungen war. "Möglicherweise hatte Ali intuitiv erfaßt, daß es über seiner Macht, jenseits der Macht zu schießen und zu töten, eine höhere Kraft gab."
Angesichts der "Netze des Terrors", die sich mit dem Anschlag in New York 2001, in Madrid am 11. März 2004 und dem Blutbad von Beslan in Ossetien (1.-3. September 2004) manifestierten, fragt der Papst am Schluß seines Buches: Werden die Menschen die dramatischen "Lektionen", die ihnen die Geschichte erteilt hat, berücksichtigen? Oder werden sie im Gegenteil der Versuchung der Leidenschaften, die in ihrem Innern wurzeln, nachgeben und sich wieder einmal von den verheerenden Suggestionen der Gewalt hinreißen lassen?
Diese Frage ist an alle Menschen gerichtet, besonders aber an die politisch Verantwortlichen. Vor allem jene, die vom Kreuzzug gegen das Böse reden, müssen sich dieser Frage vor der Geschichte stellen.
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