November 2001:
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Geschichte im Umbruch: Lehren aus der klassischen Tragödie

Lyndon LaRouche auf dem Bundesparteitag 2001
Die folgende Rede hielt der amerikanische Oppositionspolitiker LaRouche auf dem Bundesparteitag der Bürgerrechtsbewegung Solidarität am 17. November 2001 in Mainz.

Was sich in unserer Gesellschaft als schleichender Prozeß abspielt, stellt LaRouche in einen geschichtlichen Kontext, um daran anknüpfend eine Lösung darzulegen.

Wir stehen in einer Periode der Geschichte, die wohl anders ist als alles, was jeder von uns bisher erlebt hat, ja selbst anders als alles, was wir aus der Beschäftigung mit der Geschichte kennen - eine Zeit, in der alles, womit man herkömmlicherweise rechnet, plötzlich verschwunden ist. Dafür werden andere Dinge bestimmend, die in den Augen der meisten Menschen scheinbar aus dem Nichts auftauchen. Dies ist kennzeichnend für große, wahrhaft revolutionäre Perioden der Geschichte - für große Umwälzungen, die ganze historische Phasen voneinander trennen und über die Existenz ganzer Nationen entscheiden.
In einer solchen Zeit befinden wir uns jetzt.

Alle politischen Parteien in Nord- und Südamerika und in Mittel- und Westeuropa werden bald in der Versenkung verschwinden, weil sie an einer Zeit festhalten, die jetzt Vergangenheit ist, und jetzt ein Wandel zu einer Zeit begonnen hat, in der diese Parteien irrelevant geworden sind.

Vieles davon kann man nicht wirklich beschreiben. Es geht dabei um ein Prinzip, das ich in meinen Schriften manchmal als das "Goldfischglas-Prinzip" bezeichnet habe. Unsere Gesellschaft ist nicht wirklich rational organisiert - jedenfalls bisher nicht. Die Gesellschaft funktioniert nach dem System der "öffentlichen Meinung", wie die vox populi im alten Rom. Die öffentliche Meinung variiert von Nation zu Nation und von Epoche zu Epoche. Im Kern sieht das so aus, daß bestimmte Institutionen allgemein anerkannt sind: Regierungseinrichtungen, Rechtseinrichtungen, Finanz- und Buchhaltungseinrichtungen, Institutionen für Geschmack, Kleidermode, Lebensstil und Meinungsäußerung. Wenn jemand andere Menschen beeinflussen will, geht das gewöhnlich nur, wenn man sich als Autorität auf einige dieser allgemein anerkannten Einrichtungen oder Meinungen bezieht. Derjenige glaubt aber selbst, er sei verpflichtet, diesen allgemeinen Gewohnheiten zu folgen. Wenn dann die Zeit kommt, daß alle diese angenommenen Institutionen, Gewohnheiten, Gesetze usw. versagen, erlebt man ein Schauspiel, das an den Goldfisch erinnert, der aus seinem Glas in einen großen Teich entlassen wird, aber dennoch immer noch die gleichen kleinen Kreise zieht wie vorher in dem Glas, weil er es so gewohnt ist. Das ist die öffentliche Meinung oder was die Römer vox populi nannten.

Es geht darum, daß bestimmte Grundannahmen sich ändern - in der klassischen Euklidischen Geometrie würde man sagen, es ändern sich bestimmte Definitionen, Axiome oder Postulate. Die Denkweise von Völkern und Nationen ändert sich. Angenommen, Sie lebten in der Welt Keplers, im Europa des 16. Jahrhunderts. Kepler begründete als erster eine umfassende mathematische Physik, vor allem mit seinen Entdeckungen in der Astronomie und Astrophysik. Kepler zeigte, daß alle seine Vorgänger wie etwa Claudius Ptolemäus, Kopernikus und Brahe sich in ihrem Verständnis des Universums auf absurde Grundannahmen stützten. Sie alle gingen davon aus, das Universum arbeite nach den Gesetzen, die Aristoteles in seinen Schriften postuliert hatte. Doch die Wissenschaft bewies - wie es Kepler tat und vor ihm schon andere, bis zurück zu Platon - , daß bisher allgemein als wahr anerkannte Annahmen falsch waren, sie wurden umgestürzt. Daraus wurde das, was wir die moderne Wissenschaft nennen.

Jeder Fortschritt der modernen Wissenschaft beruht auf der Entdeckung, daß eine frühere wissenschaftliche Meinung absurd ist. Es werden experimentelle Fakten entdeckt, welche die Wissenschaft vor ein ontologisches Paradox stellen: einen physikalischen Widerspruch der Form, daß z.B. die existierende mathematische Physik behauptet, etwas funktioniere, während das Experiment beweist, daß es nicht funktioniert.

Typisch ist der Fall Fermats, der zeigte, daß das Licht zwei unterschiedlichen Phänomenen folgt. Bei der Reflexion folgt das Licht scheinbar dem kürzesten Weg. Doch bei der Lichtbrechung ist dies nicht der Fall. Deshalb muß man in seinem ganzen Verständnis der Zeit sowie der Beziehung zwischen Materie, Raum und Zeit eine radikale Änderung vornehmen, um das Phänomen der Lichtbrechung zu berücksichtigen. Große Teile der wissenschaftlichen Arbeit im 17. Jahrhundert - Nachfolger Fermats wie Huyghens, Leibniz, Jean Bernoulli usw. - gründeten auf den Implikationen dieser Entdeckung, daß die damalige konventionelle Definition von Raum, Zeit und Materie absurd war. Die größten Errungenschaften der neuzeitlichen Physik verdankt man einem solchen Denken. Nur so macht die Menschheit Fortschritte.

Das beste Beispiel hierfür ist die neuzeitliche europäische Zivilisation. Der Einfluß dieser Zivilisation bewirkte einen Anstieg der Lebenserwartung und der Lebensqualität wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte. Dieses Geschenk der europäischen Zivilisation verdanken wir zwei Dingen: Der Gründung des modernen souveränen Nationalstaates (der heute zerstört werden soll) und der Einführung der Wissenschaft als allgemeine Praxis der Veränderung. Daraus resultierte der größte Anstieg des Bevölkerungswachstums und die größte Verbesserung der potentiellen Lebensbedingungen der Gesamtbevölkerung hinsichtlich Lebenserwartung, geistiger Lebensqualität usw. in der ganzen Geschichte. Und das genannte wissenschaftliche Prinzip war immer die Grundlage davon.

Bedenken Sie, daß alles, was Sie glauben, einen Widersinn enthält. An allen existierenden Institutionen ist irgendetwas absurd. Früher oder später werden Sie herausfinden, worin dieser Widersinn besteht. Und dann stellt sich die Frage: Sind Sie bereit, die wissenschaftlichen Beweise dafür anzuerkennen, daß das, was Sie glauben, zumindest in Teilen absurd ist? Dann müssen Sie sich eine Hypothese ausdenken - das, was Kant eigentlich verbieten wollte. Sie müssen diese Hypothese aber experimentell überprüfen, um festzustellen, ob sie wahr oder falsch ist. Und wenn der Test erfolgreich ist, müssen Sie diese bewiesene Hypothese anwenden, um in der Gesellschaft und auch in sich selbst eine Veränderung zu bewirken.

Die klassische Erziehung wiederbeleben

Wenn es nun zu Veränderungen in den politischen und gesellschaftlichen Institutionen kommt, stößt man auf das Problem, daß es keine klassische humanistische Erziehung mehr gibt. Und wenn Menschen keine klassische humanistische Erziehung mehr haben, bedeutet das, daß sie nichts wissen; sie lernen höchstens viel. Wir unterrichten unsere Kinder so, wie man Hunden Kunststückchen beibringt. Wir unterrichten unsere Kinder nicht mehr so, daß sie wirklich etwas kennen und wissen, indem sie die Entdeckungen großer Denker der Vergangenheit nacherleben. Was uns beherrscht, ist nicht Wissen, sondern Massengeschmack. Wir verhalten uns wie Zirkustiere. Es kann zwar für ein Tier im Zirkus recht schön sein, wenn es täglich gefüttert und umsorgt wird. Aber eines Tages ist der Zirkus pleite, und dann ergeht es den Tieren übel. Das gleiche geschieht mit der Gesellschaft: Dann geht es den "Tieren" sehr schlecht.

Unsere Gesellschaft ist nicht mehr zum wissenschaftlichen Denken ausgebildet, wie es Kepler, Leibniz u.a. vertreten. In Deutschland z.B. wurde die klassisch-humanistische Erziehung vor 30 Jahren abgeschafft. Ein Deutscher, der noch im Humboldtschen Bildungssystem vor der "Brandt-Reform" unterrichtet wurde, und ein anderer Deutscher, der nach dieser "Reform" zur Schule ging, erscheinen einem als zwei verschiedene Spezies, und die eine ist der anderen innerlich unterlegen. Was verloren gegangen ist, ist die Denkfähigkeit, sie wurde weitgehend zerstört.

In den Vereinigten Staaten herrscht nicht nur eine enorme Arbeitslosigkeit, schlimmer noch, viele sind für die Arbeit gar nicht qualifiziert. Arbeitsplätze, für die sie einmal ausbildet wurden, existieren heute kaum noch.

Es ist höchste Zeit für eine Wende. Die existierenden Parteien gründeten ihre früheren Erfolge auf die Beeinflussung von Institutionen unter Bedingungen, die heute nicht mehr gegeben sind. Und wenn sie sich jetzt rettend an den Anker eines sinkenden Schiffes klammern, ertrinken sie in ihrer eigenen Narrheit.

Das alles müssen wir berücksichtigen, wenn wir mit den Menschen in aller Welt reden. Wir haben es mit Menschen zu tun, die nicht denken können. Ihnen wurde beigebracht zu lernen, aber nicht zu wissen. Deshalb ist echte Politik heute angewandte klassisch-humanistische Erziehung. Wenn man den Menschen etwas, was sie wissen sollten, klarmachen will, muß man dies in Form eines ontologischen Paradoxes tun und mit ihnen gemeinsam den Entdeckungsprozeß durcharbeiten, damit sie das Prinzip erkennen, das die Antwort auf das Paradox gibt. Erst wenn sie diese Entdeckung des Prinzips mitvollzogen haben, kennen und wissen sie es.

Wahre Politik heute ist also eine Form angewandter klassischer humanistischer Erziehung mit dem Schwerpunkt auf Wissenschaft, klassischer Dichtung und Drama. Die einzige Möglichkeit, eine Gesellschaft, die nicht mehr funktioniert - wie die USA oder die europäischen Nationen heute - , zu verändern, besteht darin, die Bevölkerung in Wissen und Erkenntnis auszubilden. Wie können die Menschen plötzlich und in großer Zahl Vertrauen in revolutionäre Veränderungen haben, wenn sie nicht wissen, was sie tun? Sie werden weiter in ihren Untergang rennen, weil sie ihren angenommenen Gewohnheiten treu bleiben wollen - und damit den existierenden Parteien, die man auch als Abfallhaufen toter Ideen bezeichnen kann. Leute mit einigen toten Ideen springen auf eine solche Partei auf und werden dann zum passenden Zeitpunkt entsorgt.

Wer dagegen ernsthaft etwas zu den künftigen Lebensbedingungen beitragen will, muß wissen, was er tut. Nur so kann er Menschen in großer Zahl so beeinflussen, daß sie ihr Verhalten grundlegend ändern.

Die Funktionsweise einer Ökonomie

Ich möchte dies anhand eines Beispiels aus meiner persönlichen Sicht veranschaulichen: Vor mehr als 50 Jahren gelang mir eine Reihe von Entdeckungen im Bereich der physischen Ökonomie, als ich nämlich die absurden Argumente zu widerlegen begann, wie sie von Norbert Wiener in der Informationstheorie und seitens John von Neumanns in der Systemanalyse und der künstlichen Intelligenz vertreten wurden. Beide waren in ihrer Kindheit oder als Heranwachsende Anhänger Bertrand Russells, der für mich das personifizierte Böse darstellt. In der Phase dieser Entdeckungen wandte ich mich wieder Bernhard Riemann zu und fand heraus, mit welcher Art von Konzepten man eine funktionierende Wirtschaft organisiert. Auf diese Weise wurden die Ideen Riemanns zum integralen Bestandteil meiner eigenen Entdeckungen.
Im Zuge dieser Entwicklungen verstand ich immer mehr, wie eine moderne Ökonomie funktioniert. Sie besitzt langwellige Zyklen, nicht wie Kondratieff sie für die russische Wirtschaft beschrieben hat, sondern eine andere Art langer Zyklen. Aber wie Kondratieff darlegte, haben diese Zyklen zum großen Teil technologische Ursachen. Wenn eine Gesellschaft eine bestimmte allgemeine Technologie eingeführt hat und in deren Handhabung immer bewanderter wird, trägt diese Technologie tendenziell zu einem Anstieg der Arbeitsproduktivkraft bei und hat andere positive Auswirkungen. Wenn in dieser gleichen Gesellschaft nicht nach einer Weile neue Entdeckungen gemacht und umgesetzt werden, wird sie in eine Periode des Verschleißes und des Niedergangs eintreten.

Diese charakteristischen Zyklen einer Gesellschaft sind also größtenteils Ideenzyklen oder, bezogen auf die Physik, Zyklen physikalischer Ideen und deren Anwendung. Es gibt auch Zyklen in der Kooperationsweise von Menschen. Wenn man Menschen auf klassisch-humanistische Weise in einem entsprechenden Bildungswesen erzieht, bildet sich eine Schicht von Arbeitskräften heraus, die denken können und etwas begreifen. Solche Arbeitskräfte können rasch neue Technologien assimilieren, während Arbeitskräfte, die wie Esel immer nur die gleiche Last ziehen, dazu nicht in der Lage sind. Neben den Zyklen physikalischer Ideen gibt es also auch kulturelle Zyklen.

Bei meinen Untersuchungen der Ökonomie stelle ich immer die Frage nach den Axiomen. Wie sind die Prinzipien beschaffen, die eine Gesellschaft sich so und nicht anders verhalten lassen? Man kann sagen, eine Gesellschaft verhält sich auf eine bestimmte Weise, weil die Menschen, die sie bilden, die Art der Regierungsinstitutionen, das Rechtswesen, die für sie spezifische Art der Buchhaltung und andere Traditionen eine Art von Geometrie entstehen lassen, in der nichts geschieht, was nicht den zugrundeliegenden Annahmen, Definitionen, Axiomen und Postulaten dieser Geometrie entspräche.

Deswegen hat eine Gesellschaft zyklische Eigenschaften; in der Regel umfaßt der Zyklus eine oder zwei Generationen. Betrachtet man die Wirtschafts- und Ereignisgeschichte, stellt sich heraus, daß der Zeitraum von der Geburt bis zum Alter von etwa 25 Jahren ein für die moderne Gesellschaft bezeichnender Zyklus ist, denn es dauert etwa 25 Jahre, bis ein Kind zu einem ausgebildeten Erwachsenen herangereift ist. Es zeigt sich auch, daß es etwa 25-50 Jahre dauert, bis Investitionen in die Infrastruktur ihre positiven Wirkungen entfalten.

Nehmen wir als Beispiel einen Landwirt. Wenn er eine leistungsfähige Milchkuhherde aufbauen will, wird dies etwa 25 Jahre in Anspruch nehmen. Das geht eben nicht von einem Tag auf den anderen; hier sind Investitionen über einen längeren Zeitraum hinweg erforderlich. Die Früchte dieser Arbeit werden erst nach einer gewissen Zeit eingebracht werden können.

Man denkt in der physischen Ökonomie also nicht so sehr in Zeiträumen von fünf, sondern eher von zehn, zwanzig oder fünfzig Jahren. Die politische Ökonomie neigt dazu, unterhalb der Erfordernisse der physischen Ökonomie zu bleiben.

Die politische Krise der Nachkriegszeit

Das große Problem der Nachkriegszeit seit 1945 bestand darin, daß die Vereinigten Staaten nicht der Politik folgten, die Franklin D. Roosevelt vorgegeben hatte. Unter dieser Politik wären nämlich die Kolonialreiche der Franzosen, Briten, Holländer und Portugiesen umgehend aufgelöst worden und unabhängige souveräne Staaten wären an ihre Stelle getreten. Die USA, wo während des Krieges starke industrielle Kapazitäten aufgebaut wurden, hatten vor, diese industrielle Kriegsproduktion in Produktionsanlagen für Kapitalgüter für die ganze Welt zu verwandeln. Auf dem berühmtem Treffen in Casablanca 1942 legte Roosevelt seine großen Pläne zur Entwicklung Afrikas und Asiens vor, Regionen, in denen bisher der Kolonialismus herrschte und die nun zu unabhängigen Nationen werden sollten. Neben der Aufbauhilfe für Europa, das sich von den Folgen von Krieg und Depression erholen sollte, wollten die USA einen großen Teil ihrer Industrieproduktion dazu einsetzen, um die Bedürfnisse der sogenannten Entwicklungsländer zu befriedigen. Aber dazu kam es dann nicht mehr. Statt dessen errichteten wir ein Bretton-Woods-System in veränderter Form, das sich auf einen künstlichen Konflikt zwischen dem sowjetischen System und dem anglo-amerikanischen System gründete. Wir lebten mit diesem Konflikt und einem relativ guten Wirtschaftssystem für Westeuropa, Japan, die Vereinigten Staaten und die anderen Teile der Amerikas bis Mitte der 60er Jahre.

Kurz nach der Ermordung Kennedys wurde dieses System dann niedergerissen. In Deutschland war hierfür der Sturz Ludwig Erhards das Signal, als es mit der deutschen Wirtschaft abwärts zu gehen begann. Die gleichzeitigen Versuche, de Gaulle loszuwerden, stellten einen Wendepunkt zum Schlechteren für die französische Ökonomie dar. Viele der positiven Errungenschaften in Deutschland, die heute abgebaut werden, waren als Teil des wirtschaftlichen Wiederaufbaus der Nachkriegszeit von 1945 bis Mitte der 60er Jahre entstanden. Das gleiche geschieht in Frankreich. Frankreich lebt im wesentlichen von den letzten Überresten dessen, was de Gaulle als französischer Präsident zur Entwicklung Frankreichs beitrug.

Auf ähnliche Entwicklungen stoßen wir in der ganzen Welt. Die Vereinigten Staaten, Westeuropa, Japan und der große Teil der latein- und mittelamerikanischen Staaten erhöhten ihre Arbeitsproduktivkraft und ihren Lebensstandard und ihre Lebensbedingungen in der Zeit von 1945 bis 1964/65 nachhaltig. Das war ein Zyklus.

Die dann einsetzenden Veränderungen fielen mit dem Vietnamkrieg zusammen. Es kam zu radikalen kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen. Und von 1965 an begannen Europa und die USA willentlich, ihr Wirtschaft, ihre eigenen produktiven Kapazitäten zu zerstören. Man kann eine Liste der großen deutschen Industrieunternehmen erstellen, die 1965 existierten, Leute beschäftigten und produzierten. Dann erstelle man eine Liste der Unternehmen, die seitdem verschwunden oder zur Bedeutungslosigkeit zusammengeschrumpft sind.

Das ist ein ganz anderer Zyklus. In den letzten 35 Jahren setzte sich in dem sogenannten anglo-amerikanischen System dieser Niedergang immer mehr durch, noch beschleunigt durch den Zusammenbruch des sowjetischen Systems. Allerdings waren die anglo-amerikanischen Interessen überzeugt, der Zusammenbruch des Sowjetsystems böte ihnen die Gelegenheit, ein Weltreich ähnlich dem Römischen Imperium oder besser dem venezianischen Modell eines römischen Weltreiches zu errichten. Das heißt nichts anderes, als daß eine Gruppe parasitärer Finanzkreise die Welt im Sinne ihrer Interessen beherrschen würde. Nationalstaaten sollten zerstört werden, wie es dann auch mittels des Vertrags von Maastricht und anderen Dingen dieser Art geschah. Dieser Prozeß der Zerstörung der Zivilisation hat sich nach 1989 noch beschleunigt. Das war keineswegs zwangsläufig, man hätte auch eine andere Politik einschlagen können - aber das war eben nicht geschehen.

Statt dessen nahm man sich den Zusammenbruch des sowjetischen Widersachers zum Vorwand, um die Geschwindigkeit der wirtschaftlichen Zerstörung noch weiter zu steigern.

Wir haben nun den Punkt erreicht, an dem dieses System aufgrund seiner eigenen inneren Widersprüche am Ende ist. Wir erleben derzeit die Endphase einer geschichtlichen Epoche - die Endphase des Zeitraums von 1945 bis 2001, die selbst mehrere Zyklen enthält. Indem ich die Grundannahmen der politischen Entscheidungsfindung, die Grundannahmen der jeweils vorherrschenden Ideen untersuchte, die zu allen diesen Veränderungen führten, konnte ich Vorhersagen erstellen, die die zutreffendsten Prognosen langfristiger wirtschaftlicher Entwicklungen der letzten 55-60 Jahre waren. Ich hielt mich einfach an das, was ich entdeckt hatte: Man darf nicht Woche für Woche, Monat für Monat auf die Statistiken starren und versuchen, daraus die weitere Entwicklung der Wirtschaft abzuleiten. Man muß die zugrundeliegenden Axiome untersuchen, die das Verhalten der Bevölkerung und der sie bildenden Teile bestimmen. Nur dann, wenn man es richtig macht, kann man Vorhersagen treffen.

Die Lehren der klassischen Tragödie

Aber das entscheidende Problem, mit dem wir es zu tun haben, ist die Frage des "Erhabenen" (siehe auch die Rede von Helga Zepp-LaRouche auf dem BüSo-Parteitag in Neue Solidarität Nr. 48 vom 28.11.2001). Das größte Problem heute ist gar nicht einmal das, worüber ich gerade gesprochen habe, sondern etwas, was damit im Zusammenhang steht. Die Tragödie liegt nicht darin, daß die Führung nichts taugt. Die Tragödie liegt darin, daß die Bevölkerung einer Kultur anhängt, die nichts taugt. Die großen tragischen Figuren versagen, weil sie in ihrem Verhalten und ihren Ansichten mit der Gesellschaft, an deren Spitze sie standen, übereinstimmten. Das Übel ist das Fehlen einer Führung, welche die Gesellschaft von ihren falschen Vorstellungen und Gewohnheiten abbringt. In der Tragödie - und alle großen Tragödien gehen auf tatsächliche historische oder überlieferte Vorkommnisse zurück, wie etwa in Homers Epen - schreibt der Dichter über tatsächliche Ereignisse aus der Sicht des Tragödiendichters. Man sollte diese Stücke so untersuchen, daß man erkennt, wie der Tragödiendichter die kritischen Punkte auffaßte, durch die sich Menschen einer bestimmten Kultur selbst zerstören. Es waren nicht falsche Führer, sondern in erster Linie die Menschen selbst, die sich zugrunde gerichtet haben - so wie sich Westeuropa und die USA heute selbst zerstören. Sie werden nicht von außen zerstört, sie werden von innen heraus zerstört, von der eigenen Bevölkerung und der eigenen Kultur. Warum? Weil eigentlich jede Nation die Willenskraft besitzt, Entscheidungen zu treffen, um die Dinge zu ändern. Aber solche Entscheidungen werden nicht getroffen. Dieses bezeichnende Verhalten, notwendige Veränderungen nicht rechtzeitig herbeizuführen, ist die treibende Kraft der Tragödie in der wirklichen Geschichte.

Moralische Qualitäten der Führung

Wo liegt also das Problem? Wer sich in einer Situation wie ich befindet - in einer führenden Position mit einigem gewichtigen Einfluß auf Dinge in der Welt zuweilen - erkennt man das Problem genauer als in jeder anderen Position. Man erkennt, wie die Probleme, die die Zivilisation bedrohen, gelöst werden könnten. Aber man erkennt auch, daß die Institutionen und die Bevölkerung nicht willens sind, entsprechend zu handeln. In einem gewissen Sinne fehlt ihnen der Überlebenswille, da dies erforderte, bestimmte Definitionen, Axiome und Postulate ihres Verhaltens aufzugeben. Mit dieser Einstellung verurteilen sich Gesellschaften selbst zum Untergang und verpassen den Durchbruch zur Freiheit.
Wie muß man mit diesem Problem umgehen? Man muß sagen: "Vergessen wir das Gerede, alle Menschen seien gut." Natürlich wird jeder Mensch "gut" geboren, denn er verfügt über schöpferische Fähigkeiten, die sein "Gutes" ausmachen. Aber die Aufgabe besteht darin, diese Fähigkeiten wirksam zur Entfaltung zu bringen, denn viele Menschen wollen gar nicht erwachsen werden. Selbst viele sogenannte Wissenschaftler werden nicht erwachsen, sie bleiben lieber auf der Stufe des schlecht erzogenen Kindes stehen. Ihre Identität ist auf eine relativ kleine geographische Region und auf wenige enge soziale Beziehungen beschränkt.

Dagegen opfern große tragische Figuren, die nicht an sich tragisch sind, innerhalb einer kurzen Zeitspanne ihr Leben auf - nicht als Menschenopfer, aber sie riskieren ihr Leben, indem sie tun, was sie für absolut notwendig erachten, um die Gesellschaft, der sie angehören, aus dem Griff der Tragödie zu befreien.

Heute gibt es leider nur sehr wenige Menschen, die über diese moralische Qualität verfügen - und das ist das Problem. In der gesamten bisherigen Geschichte gab es bisher überhaupt nur sehr wenige Persönlichkeiten dieser moralischen Qualität, die sich über die Mittelmäßigkeit ihrer kleingeistigen Mitmenschen erhoben.

Viele sagen uns: "Wenn Sie doch so klug sind, warum haben Sie dann keinen Erfolg?" oder: "Warum tun Sie das, Sie ruinieren doch Ihre Karriere damit?" Aber es ist ja gerade diese Kleingeistigkeit, mit der sich Leute in einflußreichen Positionen zum Narren machen, indem sie versuchen, "realistisch" und "erfolgreich" zu sein.

Der wirklich Held dagegen, der das Erhabene in der klassischen Kunst verkörpert, ist derjenige, der die notwendigen Veränderungen in den Grundannahmen der Gesellschaft kennt, welche die Gesellschaft retten können, und wird alles tun, diese Veränderungen herbeizuführen.

Das einzige, was eine Bevölkerung vor jener Selbstzerstörung bewahren kann, die derzeit die europäischen Nationen und die USA im Griff hält, besteht darin, eigene Führungspersönlichkeiten zu finden, die das Erhabene verkörpern und die das Notwendige für die Nationen, die Menschen und die Zukunft unternehmen werden, was immer auch an persönlichen Risiken für sie damit verbunden ist.

Denn selbst wenn sich Menschen schlecht verhalten, sind sie nicht dumm. Wenn entsprechende Fähigkeiten vorhanden sind, kann man sie oft auch in den Menschen wachrufen. Große Führungspersönlichkeiten inspirieren eine Bevölkerung dazu, sich über ihre Kleinheit zu erheben - so wie es de Gaulle getan hat. Als er in Frankreich regierte, wurden verschiedene Staatsstreiche gegen ihn angezettelt. De Gaulle wandte sich daraufhin in einer berühmten Rede an die französische Nation, die ich damals auch im Fernsehen mitverfolgte. Er forderte die Mithilfe seiner Landsleute: "Aidez moi!" Und die französische Bevölkerung reagierte, und Frankreich war gerettet. In diesem Moment war de Gaulle der Held, der Frankreich und Europa vor der Hölle bewahrte, die eingetreten wäre, wenn er nicht gehandelt hätte.

So ist es immer gewesen. Auch bei der Machtergreifung der Nazis: Es gab Menschen, die dies hätten verhindern können. Aber sie taten es nicht, weil sie meinten, sie könnten das Problem innerhalb des Systems unter Kontrolle bekommen. Es gab in der Geschichte meines Wissens immer Menschen, die über das nötige Wissen verfügten und das Richtige tun wollten, nämlich politische Führung zu geben. Aber oft wurde diese Führung zurückgewiesen, oder es gelang ihnen nicht, ihr Führungsqualitäten angemessen zu entwickeln. Sie schreckten vor den Konsequenzen zurück, sie schwankten - und so gingen ganze Nationen unter.

Wir stehen heute in einer solchen Periode. Meiner Ansicht nach ist es eine Zeit weltweiter großer Gefahren. Aber es ist zugleich auch eine Zeit großer Chancen. Die Frage, ob wir die Gefahren meistern können, hängt entscheidend davon ab, wie viele Führungspersönlichkeiten sich von Natur aus in einer Bevölkerung entwickeln. Wir brauchen Führung von einer Qualität, die Schiller als das Erhabene bezeichnete.


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