Etwas verunsichert informieren Sie sich und stellen fest, daß in der Tat die Textilindustrie die chemieintensivste Industrie innerhalb der EU ist. Die dort eingesetzten Chemikalien machen über 5,6% ihres Gesamtumsatzes aus. Kein anderer Industriezweig erreicht diesen Wert. Aber es gibt auch keinen Industriezweig, der ganz ohne Chemikalien auskäme. Das gilt selbst für die Nahrungsmittelindustrie. Sollten die belächelten Umweltspinner und überängstlichen Bekannten Recht haben, die behaupten, wir würden uns mit all den Chemikalien allmählich selbst vergiften?
Es oblag nationalen Behörden zu entscheiden, ob ein Stoff auf die mit seiner Verwendung verbundenen Risiken geprüft werden mußte. Diese Prüfungen wurden bisher weitgehend von den Behörden durchgeführt. Die damit verbundenen Verfahren sind teuer, langwierig und schwerfällig. Im Jahr 1993 wurde z.B. entschieden, an 140 in großen Mengen produzierten Chemikalien eine Risikoüberprüfung vorzunehmen, doch nur etwa die Hälfte hat heute, nach zehn Jahren, das Bewertungsverfahren vollständig durchlaufen. Die wenigsten der vielen "Altstoffe" konnten bisher überprüft werden, und die langwierigen Verfahren für die "Neustoffe" behindern zunehmend Forschung, Entwicklung und Innovation. Seit 1981 sind nur noch rund 4000 neue Chemikalien auf den Markt gekommen.
Das will die EU-Kommission jetzt ändern. Die Brüsseler Bürokraten veröffentlichten 2001 ein Weißbuch Strategie für eine zukünftige Chemikalienpolitik, in dem sie ihre Vorstellungen für eine wirksamere Kontrolle der Chemikalien in Europa niederlegten. Danach sollen die Unternehmen, die Chemikalien herstellen oder importieren, verpflichtet sein, die mit der Herstellung und Verwendung der Chemikalien verbundenen Risiken zu bewerten und Maßnahmen zur Beherrschung der erkannten Risiken zu treffen. Damit gingen die Pflicht zur Gewährleistung der Sicherheit im Umgang mit den Chemikalien und die damit verbundenen Kosten vom Staat auf die Unternehmen über; letzterer beschränkt sich auf die Überwachung der Verfahren und die Überprüfung der Testergebnisse.
Kernstück der neuen Strategie ist das sogenannte "REACH"-System, ein integriertes System zur Registrierung, Bewertung (Evaluierung) und Zulassung (Autorisation) von Chemikalien. Das Papier löste sofort nach Erscheinen eine heftige Diskussion unter den Beteiligten - der Chemischen Industrie, den Umweltorganisationen und staatlichen Behörden - aus, obwohl alle Seiten im Grundsatz den Vorstoß begrüßen und die Notwendigkeit einer einheitlichen Regelung einsehen. Strittig ist, wie das zu geschehen hat.
Die Industrie sieht nicht ohne Grund hohe Kosten und komplizierte Zulassungsverfahren auf sich zukommen und befürchtet drastische Nachteile auf dem Weltmarkt. Schon heute dauert die Einführung/Zulassung neuer Chemikalien in Europa dreimal solange wie in den USA und kostet zehnmal mehr. Schon deshalb verlagert die Chemische Industrie ihre Substanzentwicklung weitgehend ins Ausland. Deshalb gewinnt die amerikanische Chemische Industrie international an Boden, während die europäische auf hohem Niveau stagniert. Ihr Anteil am Weltmarkt ist in den letzten zehn Jahren von 32% auf 28% gesunken. Sie ist mit einem Jahresumsatz von rund 500 Mrd. Euro der drittgrößte Industriezweig der EU. In ihm verdienen unmittelbar 1,7 Millionen Menschen ihr Brot, zusammen mit nachgelagerten Produktionsstufen leben in Europa rund 3,3 Mio. Beschäftigte und ihre Familien von der Chemie.
Umweltorganisationen fürchten, daß der enorme Einfluß und die Finanzkraft der Chemischen Industrie das Vorhaben der EU zulasten der Umwelt, der Gesundheit der Bevölkerung und der dort Beschäftigten verwässern könnten. Sie spielen die Kosten als übliche Übertreibungen der Industrielobby herunter und verweisen auf die großen Einsparungen und Vorteile, welche eine gesündere Umwelt und Bevölkerung mit sich brächten; diese würden die Kosten und Wettbewerbsnachteile mehr als wettmachen.
Allerdings lassen sich diese Einsparungen und Vorteile noch ungenauer erfassen als die befürchteten Kosten. Übertreibungen bis ins Groteske sind - bisher jedenfalls - das Kennzeichen dieser Spenden erwirtschaftenden Organisationen. Den Behörden wiederum geht es um Zuständigkeiten. Vorgesehen ist eine neue europäische Agentur, die nicht nur die zentrale Datenbank aller verwendeten Chemikalien führen soll, sondern ausschließlich für alle Fragen im Zusammenhang mit der Verwendung von Chemikalien verantwortlich sein soll - zweifellos ein riesiger neuer Apparat.
Jede Seite begründete ihre Einwände durch zahlreiche Studien und Gutachten, die mehr oder weniger glaubhaft mit mehr oder weniger gesicherten Zahlen herumjonglieren. Wesentliche Einwände und Forderungen hat die Kommission in dem im Oktober 2003 vorgelegten EU-Gesetzentwurf berücksichtigt und einige der vorgesehenen Maßnahmen und Verfahren geändert. Nicht berücksichtigt wurde allerdings ein entscheidender Einwand, der die Verteilung der Kosten betrifft. Trotzdem wird die Verabschiedung des Gesetzes durch das Europäische Parlament und die EU-Kommission noch in diesem Jahr erwartet.
Man rechnet pro Stoff mit Registrierungskosten zwischen 20 000 bis 325 000 Euro. Der Unterschied rührt daher, daß für Stoffe, die in geringeren Mengen hergestellt werden (weniger als 100 t pro Jahr), gewisse Vereinfachungen des Verfahrens vorgesehen sind. Ausgenommen sind Chemikalien, die noch anderen EU-Rechtsvorschriften unterliegen, weil sie z.B. radioaktive Substanzen enthalten, ferner Polymere, weil sie in der Regel harmloser sind als die Monomere, aus denen sie zusammengesetzt werden, und - unter bestimmten Bedingungen - einige andere Stoffe, die im Produktionsvorgang nur als Zwischenprodukte auftreten. Angaben zur Sicherheit im Umgang mit dem Stoff sind in der Lieferkette weiterzugeben, so daß diejenigen, welche die Stoffe verwenden, wissen, wie sie eventuelle Risiken für ihre Arbeitskräfte, die Verbraucher ihrer Produkte und die Umwelt vermeiden können.
Die Agentur bewertet die Stoffe anhand der Dossiers und der in der Literatur verfügbaren Erkenntnisse. Als Ermittlungsmethode werden, um weitgehend auf unpopuläre Tierversuche verzichten zu können, sog. QSARs vorgeschlagen. Dabei werden die physiologischen Gesundheits- und Umweltauswirkungen der Chemikalien mit Hilfe von Computermodellen aufgrund ihrer Molekularstruktur ermittelt. Die Agentur kann nach vorgegebenen Prioritätskriterien weitere Auflagen zur Bewertung und Überprüfung ihr verdächtig vorkommender Stoffe anordnen und Informationen nachfordern. Weitere Regelungen sind für den Streitfall zwischen Hersteller und Agentur vorgesehen.
Schließlich kann die Agentur die Verwendung besonders besorgniserregender Stoffe einschränken und an die Einhaltung bestimmter Auflagen binden. Dazu zählen alle Stoffe, die im Verdacht stehen, krebserregend, erbgutschädigend und fortpflanzungsgefährdend zu sein, aber auch solche, die in der Natur nicht abgebaut werden, sich in Organismen ansammeln können oder giftig sind. Erst wenn nachgewiesen werden kann, daß man die Risiken im Umgang mit diesen Stoffen beherrscht, und nach Abwägung ihres gesellschaftlichen Nutzens wird eine Zulassung erteilt, sonst werden Herstellung oder Einfuhr an Auflagen gebunden, EU-weit eingeschränkt oder ganz verboten.
Die Kritiker fordern auch eindeutige wissenschaftliche Prüf- und Zulassungskriterien, damit grundlose Befürchtungen, auch wenn sie von interessierter Seite mit entsprechendem Medienaufwand in der Öffentlichkeit verbreitet wurden, weitgehend ausgeschlossen bleiben. Vor allem sollte es tatsächlich nur noch eine einzige, effizient organisierte Behörde geben, so daß das bisher lähmende "Ping-Pong" zwischen verschiedenen Behörden vermieden werden kann. Man befürchtet auch, daß die neuen Regelungen, vor allem die aus REACH erwachsenden Importbeschränkungen, gegen Bestimmungen der Welthandelsorganisation verstoßen und Gegenmaßnahmen auslösen könnten.
Die Kritik betrifft natürlich auch die hohen Kosten. Die Kommission rechnet damit, daß in den kommenden elf Jahren auf die Chemische Industrie unmittelbare Kosten für die Tests und Fertigung der Dossiers zwischen 4-6 Mrd. Euro sowie 14-26 Mrd. Euro an Folge- und Begleitkosten zukommen. Mehr noch fürchtet die Industrie den enormen bürokratischen Aufwand, der mit dem REACH-System verbunden ist. Er nötigt die Industrie wie auch die Agentur, neue Arbeitsplätze einzurichten. Das nötige Fachpersonal sei aber schon heute aus Zeitgeistgründen kaum auf dem Arbeitsmarkt zu finden. Hauptnutznießer dürften zahlreiche neue Dienstleister sein, die als Berater auftreten oder die erforderlichen Tests vornehmen. Die Kosten gehen zu Lasten der Forschungshaushalte der Unternehmen oder führen zu Preissteigerungen.
In beiden Fällen verschlechtert das die Wettbewerbssituation der europäischen Industrie auf dem Weltmarkt. Die Industrie befürchtet des weiteren, daß durch die verlangte Offenlegung der chemischen Sicherheitsabschätzung und die gemeinsame Nutzung von Prüf- und Versuchsdaten Betriebs- und Produktionsgeheimnisse nicht mehr gewahrt werden können. Eine Studie der Beratungsfirma Arthur D. Little über die Auswirkungen von REACH auf die Wirtschaft in Deutschland errechnet unter bestimmten Bedingungen und aufgrund von Marktverlusten im Ausland ein deutliches Sinken des Bruttoinlandsprodukts und den Verlust von bis zu 2,3 Millionen produktiven Arbeitsplätzen.
Das Hauptproblem von REACH liegt in den unausgewogenen Belastungen. Für Großbetriebe und große Produktionsvolumen mögen die Registrierungskosten durchaus verkraftbar sein. Doch die eigentlichen Kosten, nämlich 80%, fallen im Bereich der Sonderchemikalien an, die vorwiegend in innovativen Kleinbetrieben entwickelt und hergestellt werden. Diese machen nur 20% der Chemischen Industrie aus. Betroffen sind Stoffe, wie z.B. NE-Metalle oder seltene Erden, die es in Europa nicht gibt und die seit vielen Jahrzehnten problemlos eingeführt und bearbeitet wurden. Solche Stoffe werden oft nur in sehr speziellen Bereichen verwendet, die an der Front wissenschaftlicher Weiterentwicklung stehen, z.B. in der Elektronikindustrie oder bei der Entwicklung neuer Katalysatoren. In manchen Fällen können die Kosten der Registrierung höher sein als der Gesamtumsatz mit solchen Produkten - ganz abgesehen von dem damit erzielten Gewinn.
Es ist zu erwarten, daß einige Hersteller/Importeure deshalb auf die Herstellung bzw. den Import solcher Stoffe ganz verzichten und auch ihre Betriebe ganz aufgeben werden. Hier kann sich wiederholen, was vor Jahren im Fleischereigewerbe geschah: Staatliche Auflagen verpflichteten auch kleine Unternehmen, ihr Wasser zu hohen Kosten analysieren zu lassen, obwohl sie es aus den stark überwachten kommunalen Versorgungswerken bezogen. Die Kosten vernichteten ihre Rentabilität, womit der Staat die Konzentration im Gewerbe und die Ausschaltung kleiner Betriebe vorantrieb. Diese Absicht wurde natürlich nicht öffentlich eingestanden. Ähnliches dürfte nun in der Chemischen Industrie geschehen, in der neben den konzentrierten Großbetrieben noch viele mittelständische oder Kleinbetriebe tätig sind, darunter viele, die Innovationen in der Branche vorantreiben.
Die neuen Regelungen betreffen unverhältnismäßig stark Chemikalien, die in nur relativ geringen Mengen hergestellt und in Sonderentwicklungen verwendet werden. Im Hinblick auf Innovationen wirkt sich auch die Dauer der Zulassungsverfahren nachteilig aus, weil sie die Markteinführung verzögert und schon dadurch die Entwicklungskosten steigert. Die Folgen für die Nachfolgeindustrie, insbesondere in Bereichen mit großem Innovationspotential wie in der Elektronik-, Textil- und Kunststoffindustrie und die Industrie der Oberflächenbearbeitung, sind kaum abzusehen. Erwartet werden Innovationsverzögerung, Effizienzverlust, hohe zusätzliche Kosten, um für ausfallende Stoffe Ersatz zu schaffen, sowie die Behinderung der weiteren Forschung und Entwicklung.
Nur lassen die Erfahrungen mit bisherigen oft wenig sachlich begründeten Verbotskampagnen - insbesondere im Fall von DDT oder in jüngster Zeit im Zuge der "Klimarettung" durch CO2-Vermeidung - befürchten, daß auch REACH im Dienst gesellschaftsverändernder und machtpolitischer Interessenkämpfe steht und sich zu Lasten der Versorgung der Bevölkerung auswirkt. Daß die neuen Vorschläge die Industrielandschaft bereinigen, Kleinbetriebe ausschalten und der Gleichschaltung der Gesellschaft dienen sollen, wird in den amtlichen Stellungnahmen dazu natürlich niemals zugegeben. Die Tatsache, daß die Verfechter früherer, unlauterer Umweltkampagnen inzwischen an die Schalthebel der politischen Macht gelangt sind, kann das Vertrauen in die Maßnahmen der politischen Machthaber nicht stärken. Doch dieses Problem läßt sich weitgehend nur politisch lösen.
Was geschieht unter REACH?
An erster Stelle steht bei REACH die Registrierung. Wenn ein Hersteller oder Importeur von einer Chemikalie mehr als eine Tonne im Jahr herstellt oder importiert, muß er sie bei der neuen, dann zuständigen Agentur in der zentralen Datenbank registrieren lassen. Dazu werden einheitliche Formblätter vorbereitet und standardisierte Analysen und Testverfahren vorgeschrieben. Für jeden zu registrierenden Stoff muß bei seiner Registrierung ein entsprechendes Dossier eingereicht werden. Es enthält Angaben über seine Eigenschaften, die Testverfahren, denen er zu ihrer Ermittlung unterzogen wurde, seine Ergebnisse, ferner Angaben über die Verwendung des Stoffs und über Maßnahmen, die einen sicheren Umgang mit ihm gewährleisten.
Kritik an REACH
Die Kritiker halten die Durchführung des Programms in der jetzigen Form für nicht oder zu schwer handhabbar. Man denke nur an die Datenfülle bei komplexen Produkten, die aus vielerlei Stoffen zusammengesetzt sind. Sie wenden sich auch gegen die Prioritäten, nach denen die Registrierung durchgeführt werden soll: Richtschnur solle nicht die Produktmenge, sondern aufgrund des bisherigen wissenschaftlichen Sachverstands das zu vermutende Gefährdungspotential der Stoffe sein. Vor allem sei nicht einzusehen, weshalb Stoffe, die seit vielen Jahrzehnten gefahrlos benutzt werden, nun einem so aufwendigen Zulassungsverfahren unterzogen werden sollen.
Schluß
Die zentrale Registrierung aller verwendeten chemischen Stoffe wird allgemein gewünscht. Wenn Europa damit beginnt, kann es dadurch schließlich den Weltstandard vorgeben und beeinflussen. Solange die Vermeidung und angemessene Handhabung der mit den Stoffen verbundenen Risiken das alleinige Ziel der Registrierung ist, wird man schließlich Verfahren finden, mit denen alle Beteiligten leben können. (So wäre es denkbar, für die Erfassung seit langem problemlos verwendeter Stoffe weniger kostspielige Lösungen zu finden, z.B. als Seminararbeiten in Hochschulen.)
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