Mit jeder neuen Schreckensmeldung aus der Wirtschaft stieg der Anteil der Gegner auf über 50 Prozent. In der jüngsten Zeit verärgerten noch weitere Vorkommnisse die Franzosen: Entgegen der Zusage der EU-Regierungen, die sogenannte "Bolkestein-Direktive", nach der Firmen im "alten" Europa Arbeitnehmer des "neuen" Europa zu den dortigen Niedriglöhnen anheuern können, nicht wirklich abgeschafft worden ist. Auch die Abschaffung des Pfingstmontags als allgemeiner Feiertag stieß auf Mißfallen.
Aber welche Seite sich auch durchsetzen wird, die politische Landschaft Frankreichs hat sich grundlegend verändert. Die zunehmende Arbeitslosigkeit, das scheinbar unaufhaltsame Absinken des Lebensstandards für alle Schichten mit Ausnahme der Superreichen und die Sorge vor einem Scheitern Frankreichs und ganz Europas im Wettbewerb mit Ländern wie China oder Indien haben dazu beigetragen, in Frankreich eine beispiellose politische Diskussion über die grundlegendsten Fragen der Wirtschaftspolitik in Gang zu setzen, wobei die traditionellen Parteigrenzen praktisch bedeutungslos wurden. In den Reihen der Gegner fanden sich neben führenden Sozialisten auch Gaullisten. Bei den Befürwortern standen einträchtig Wirtschaftsliberale wie Chirac und Sarkozy von der UMP, UDF-Zentristen um François Bayrou und der Flügel um François Hollande der Sozialistischen Partei nebeneinander.
Allein in der Großregion Paris fanden täglich bis zu zehn öffentliche Diskussionsveranstaltungen von Gegnern und Befürwortern der EU-Verfassung statt. Hinzu kamen zahllose kleinere Veranstaltungen und informelle Treffen, auf denen die Verfassung debattiert wurde. Im Rest des Landes war es ähnlich. Aufgrund dieser Mobilisierung der Öffentlichkeit sah sich die französische Regierung gezwungen, allen Wahlberechtigten ein Exemplar der EU-Verfassung zukommen zu lassen.
Zu Beginn der Auseinandersetzung standen zunächst der extrem neoliberale Charakter der Verfassung und die Folgen der "Bolkestein-Direktive" oder das Problem der Auslagerung von Arbeitsplätzen im Zentrum der Kritik. Aber in den letzten Wochen konzentrierten sich die Gegenargumente vor allem auf die Rolle der "unabhängigen" Europäischen Zentralbank (EZB), deren maßgeblicher Einfluß auf die europäische Finanz- und Wirtschaftspolitik in der Verfassung festgeschrieben ist. Viele Kritiker sprachen sich insbesondere gegen die Artikel III, Absatz 183 und Absatz 181 aus, die es den Regierungen untersagen, die Politik der EZB zu beeinflussen und der EZB verbieten, Kredite an die EU-Regierungen zu vergeben. Aus linken Kreisen - attac, der Kommunistischen Partei und ähnlichen Gruppierungen - wurde zur Bildung einer "gemeinsamen Front" nach dem 29. Mai aufgerufen, um vor allem stärkere Kontrollrechte der nationalen Parlamente und des EU-Parlaments gegenüber der EZB zu fordern. Auch der Sozialistenführer Laurent Fabius kritisierte die Unabhängigkeit der EZB scharf.
In Paris, Lyon, Grenoble, Rennes und Nantes verteilte die LYM in den letzten vier Wochen mehr als 150 000 Flugblätter und meldete sich in Hunderten Veranstaltungen und Treffen zu Wort, wobei es immer wieder um die Frage der Ankurbelung der Realwirtschaft und der notwendigen Reform des Weltwährungssystems ging. Die von LaRouche inspirierte Resolution für eine Neues Bretton Woods im italienischen Parlament bildete ebenso einen Schwerpunkt der Mobilisierung der LYM wie die Diskussion in Deutschland um das Gemeinwohlprinzip und die Sozialverpflichtung des Eigentums.
Der Unabhängigkeit der EZB setzte die LYM die Notwendigkeit umfangreicher öffentlicher Investitionen in der Tradition Colberts und des Wiederaufbaus in der Nachkriegszeit entgegen. Die französische Regierung sei nur über große Infrastrukturprojekte in der Lage, neue produktive Arbeitsplätze zu schaffen. In der letzten Zeit rückten natürlich die Krise bei GM und Ford sowie die Gefahr des erneuten Zusammenbruchs im Hedgefondssektor, der das ganze Finanzsystem zum Einsturz bringen könnte, sowie der Aufruf für ein neues Bretton Woods von Helga Zepp-LaRouche ins Zentrum der Diskussion.
Mit seiner Kampagne gegen die EU-Verfassung ist es Cheminade gelungen, die Versuche korrupter mit der Regierung Bush verbündeter französischer Kreise zu unterlaufen, ihn "politisch kaltzustellen". In der Stadt Venisseux nahe Lyon, lud der stellvertretende Bürgermeister André Gerin, Cheminade ein, an einer Veranstaltung gegen die EU-Verfassung teilzunehmen. Auch der frühere Verteidigungsminister Jean-Pierre Chevenement war eingeladen. Zugleich bat Gerin Cheminade eine Rede vor dem Stadtrat zu halten, auch wenn er damit den Zorn der Neokonservativen auf sich zog.
Die große Pariser Boulevard-Zeitung Le Parisien ärgerte sich auch über Cheminade. Dabei ging es um eine Rede des Sozialisten Fabius an der Gaullistischen Akademie. Dort heißt es: "Laurent Fabius sprach am Abend vor der Gaullistischen Akademie, eine Einrichtung, die, wie er selbst, dazu aufruft, gegen die EU-Verfassung zu stimmen. Fabius erklärte, General de Gaulle sei nicht das alleinige Eigentum der Rechten oder der Linken. ,Diejenigen, die ihn jetzt für sich in Anspruch nehmen, sind die gleichen, die ihn verraten haben - so ist das Leben', sagte er unter Beifall. ,Und diejenigen, die sich heute als seine Nachfolger aufspielen, vertreten seine Sache keineswegs gut.' Dazu gehört auch der schwefelumwitterte frühere Präsidentschaftskandidat Jacques Cheminade", giftete Le Parisien.
Cheminade hat einen politischen Nerv getroffen, denn er hat Gegner wie Befürworter zur Einsicht gedrängt, daß sie sich mit Fragen der Reform des Weltwährungssystems beschäftigen müssen, die über das Referendum hinausgehen. Der Fraktionschef der Sozialisten im französischen Parlament und stellvertretende Bürgermeister von Nantes, Jean Marc Ayrault, erklärte öffentlich, er sei mit Cheminades Vorschlägen vertraut und finde einige davon gut, auch wenn er Cheminades Programm für nicht realistisch halte. Andere Politiker, Gegner wie Befürworter, haben sich zu weiteren Gesprächen mit Cheminade nach dem Referendum bereiterklärt.
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