Dezember 2005:

Stromausfall in Deutschland

Deutschland bereits auf dem Niveau eines Entwicklungslandes: Dem Schneechaos im Dezember sind auch 110 000 Volt-Hochspannungsleitungen zum Opfer gefallen. RWE beruft sich auf höhere Gewalt, aber viele Mängel waren bekannt und wurden offenbar aus Kostengründen nicht abgestellt. Viel Geld floß stattdessen in neue Stromleitungen für Windenergie.

Windräder in Rheinland-Pfalz
Am Tag, als diese Aufnahme gemacht wurde, hat sich von Morgens bis Abends keines der über 30 verstreut liegenden Windräder in Umkreis von Alzey gedreht. Sollte man vielleicht mit Ventilatoren nachhelfen, um den Anschein der Wirtschaftlichkeit aufrechtzuerhalten? - Helmut Böttiger analysiert die Hintergründe des Versagens der hiesigen Energiepolitik.

"So etwas kann es in den USA, in Italien, aber nicht bei uns geben. Unser Versorgungsnetz ist sicher". An solche Behauptungen ließ sich so lange glauben, bis es passiert war. Im Münsterland fielen in drei Landkreisen für rund 250 000 Menschen in 25 Gemeinden der Strom für mehrere Tage aus, für einige zehntausend sogar über eine Woche lang. Ohne Strom läuft im Betrieb und zu Hause fast nichts mehr. Vor allem fällt Licht und wegen der elektronischen Steuerung die Heizung aus, der Kühlschrank und die Tiefkühltruhe taut ab und Radio, Telefon und Fernseher bleiben still und dunkel.

Schneechaos und "höhere Gewalt"

Was war geschehen? Am 25. November war die Temperatur dort nach größerer Kälte auf etwa 0° angestiegen, es hatte in kürzester Zeit rund 30 cm hoch geschneit. Der Schnee sei - nach Aussagen des zuständigen Versorgungsunternehmens RWE - an den Leitungen angefroren und habe einen 6 bis 8 cm dicken Eisbelag gebildet. Das habe zu einer Belastung pro laufenden Meter Leitung von bis zu 11 kg geführt. Das sei das Achtfache dessen gewesen, was Leitungen nach der noch gültigen DIN-Norm hätten aushalten müssen. Unglücklicherweise sei zum Schnee auch noch Sturm gekommen. Dieses ungewöhnliche Zusammenwirken habe teilweise Kabel reißen und Strommasten einknicken lassen. Das sei höhere Gewalt, und deshalb der Stromversorger nicht haftbar zu machen.

Außerdem habe man sofort gehandelt. Das Unwetter hatte sich an einem Freitag ereignet. Trotzdem seien sofort über 400 Spezialisten und zusätzliche Hilfskräfte mobilisiert worden, um den Schaden zu begrenzen. Das habe sich allerdings als sehr schwierig erwiesen. Die Firma werde, so der Vorstandsvorsitzende der - wie am Namen zu erkennen - auch schon globalisierten RWE Energy AG, Berthold Bonekamp, 5 Mio. Euro für einen Härtefallfonds bereitstellen, aus dem besonders hart betroffenen Menschen geholfen werden solle. Die tatsächlichen Schadenersatzforderungen werden dagegen von anderer Seite auf mehrere 100 Mio. Euro geschätzt. Um sie geltend zu machen, müßten allerdings eine Schuld oder grobe Fahrlässigkeit der Firma nachgewiesen werden.

Das Eis war schnell getaut, und die Angaben über das Ausmaß der Katastrophe lassen sich nicht mehr überprüfen. Dafür kamen - wie kaum anders zu erwarten - Zweifel an der Darstellung der verantwortlichen Firma auf. Extreme Wetterlagen der beschriebenen Art sind so selten nicht. Im Hinblick auf sie wurden, wie man noch vor dem Wettereinbruch meinte, zu hohe Belastungsgrenzwerte festgelegt. Deshalb wurden nach Auskunft des Stahlbauverbands in der laufenden neuen Überarbeitung der Richtlinien sogar niedrigere Werte angesetzt. Daß Leitungen reißen, ist nicht so ungewöhnlich. In solchen Fällen wird die betroffene Leitung binnen Sekunden ausgeschaltet und der benötigte Strom über eine andere Leitung an den Verbraucher geliefert. Aus diesem Grunde haben Versorgungsgebiete in der Regel einen Mehrfachanschluß oder eine Ringversorgung mit mehreren Übergabestellen. In dünnbesiedelten Gebieten mit geringer Verbraucherdichte scheint sich der Mehrfachanschluß nicht zu rentieren und wird deshalb, wenn auch möglichst unauffällig, "eingespart". Im Krisengebiet gab es derart benachteiligte Versorgungsbereiche.

Doch dem Schneechaos sind nicht nur einfache lokale Zuleitungen zum Opfer gefallen, sondern Hochspannungsleitungen. Jedenfalls im Bereich Ochtrup und Coesfeld handelte es sich um 110 000-Volt-Starkstromleitungen. Jeder Mast wird entsprechend der Topographie der Trasse eigens berechnet, wobei Durchhang, Zugkräfte, Temperaturen und extreme Wetterbedingungen berücksichtigt werden. Starkstromdrähte bestehen aus einer dicken Stahlsehne, die ein Aluminiummantel umhüllt. Daß sich - zumal bei stärkerem Wind - um das Drahtseil in kurzer Zeit dermaßen dicke Eispanzer gebildet haben, daß sie reißen, ist so wenig glaubhaft wie die Fähigkeit ihres Gewichts, große Gittermasten zum Einsturz zu bringen.

Lag es an der Wartung?

Weil hier Erklärungsnot entstand, wurde die Geschichte mit dem Thomasstahl in Umlauf gebracht. Ein großer Teil der Strommasten sei in der Nachkriegszeit bis zum Jahr 1967 aus dieser basischen, phosphorhaltigen, aber siliziumarmen Stahlsorte hergestellt worden. Der Stahl sei in ungewöhnlicher Weise versprödet und das habe zu den unerwarteten Schäden geführt. In diesem Zusammenhang stellten Laboruntersuchungen fest, so die Süddeutsche Zeitung vom 5. Dezember, daß sich die Bruchfestigkeit des Materials älterer Masten bis zu 60 % "reduziert" hätte.

Der Spezialist für Eisenhüttentechnik, der emeritierte Professor Akos Paulinyi, hält das jedoch für Unsinn. Er kenne Konstruktionen aus Thomasstahl, die seien über 100 Jahre alt und voll funktionsfähig. Allerdings seien sie auch "vernünftig gepflegt worden". Nun kann in der Nachkriegszeit am Material gespart worden sein, es kann aber auch sein, daß es sich bei der "Reduktion" um Rostfraß gehandelt hat. In beiden Fällen ist erstaunlich, daß diese Mängel bisher nicht aufgefallen sein sollten. Oder doch?

Die RWE hatte das betroffene Netz von der VEW Dortmund übernommen. Nach Angaben des Vorstandsmitglieds Werner Roos wurde das Netz von insgesamt 42 000 Masten - wohl zum Zweck der Preisfestlegung - im Jahr 2001 untersucht. Damals wurden 28 000 Masten als bruchgefährdet eingestuft. Ein Viertel davon, vor allem in der Nähe von Verkehrswegen und Gebäuden, seien erneuert worden. Außerdem sei ein 550 Mio. Euro-Programm zur schrittweisen Erneuerung aufgestellt worden.

Zudem, gesteht Roos noch ein, wurde 2003 die Wartung der Leitungen ausgelagert, d.h. einer Fremdfirma übertragen. Früher war man bei der Wartung auf jeden einzelnen Mast hinaufgeklettert, um den Schutzbelag (Zink und mehrere Lackschichten) auf Risse und Dichtigkeit zu überprüfen. Das war aufwendig, aber auch nicht in jedem Jahr nötig, da ordentliche Schutzschichten den Stahl 10 bis 30 Jahre schützen. Heute erfolgt die Wartung jährlich - per Hubschrauber. Grobe Mängel kann man damit erkennen, etwa Schäden an den Isolatoren, aber nicht, ob die Schutzschicht schon korrodiert oder das Trägermaterial bereits angegriffen ist.

Oder an den Kosten?

Aribert Peters vom eher grünen Bund der Energieverbraucher rechnet vor, daß die Verbraucher jährlich rund 18 Mrd. Euro an Durchleitungskosten für ihren Strom bezahlen, aber in ganz Deutschland nur 2 Mrd. davon für Ausbau und Pflege des Netzes aufgewendet würden. Holger Krawinkel vom Bundesverband der Verbraucherzentralen meinte (Frankfurter Rundschau vom 6. Dezember), daß für den gleichen Zweck vor zehn Jahren in Deutschland mit 3,6 Mrd. Euro fast das Doppelte ausgegeben wurde.

Die RWE, einer der vier großen Versorgungskonzerne, gibt an, allein in diesem Jahr 450 Mio. Euro in ihr gesamtes Netz investiert zu haben. Am Geld, das nicht mehr zur Verfügung stand, kann es nicht gelegen haben. Die Monopolisierung als Folge der Liberalisierung der Stromversorgung hat den großen Konzernen der Elektrizitätswirtschaft gewaltige Gewinne ermöglicht. Die RWE hatte bis zum 30. September 2005 einen Gewinn von 1,7 Mrd. Euro ausgewiesen. Diese Gelder seien aber - so wird vermutet - vorwiegend für die weitere Monopolisierung in Europa, d.h. für den Ankauf von Firmen und Stromnetzen verwendet worden.

Windenergie und Stromnetz

Die Höhe der Aufwendungen für das Stromnetz allein liefert ein unzulängliches Bild. Das liegt an der nötig gewordenen Umstrukturierung. Bisher pflegte man eine weitgehend dezentrale Stromversorgung. Die Kraftwerke wurden über das ganze Land verteilt und in der Nähe des Verbrauchers errichtet. Das galt sogar für die sehr leistungsstarken Kernkraftwerke. Dadurch wurde der Aufwand für den verlustreichen großräumigen Stromtransport möglichst niedrig gehalten.

Das hat sich durch den Boom der Windenergie geändert. Die Windparks wurden vorwiegend in dünnbesiedelten und damit verbrauchsschwachen Gebieten errichtet. Sie erzeugen in Zeiten starken Windes deutlich mehr Energie, als in der Region verbraucht wird. Die Überschußenergie muß großräumig abtransportiert werden. Bei Windstille fließt die Energie in umgekehrter Richtung.

Die Regelungseinrichtungen und Leitungsnetze z.B. in den Küstenregionen konnten die dadurch verursachten Belastungen in ihrem bisherigen Zustand nicht aufnehmen. Schleswig-Holstein und Niedersachsen stießen an Kapazitätsgrenzen, um das sporadisch anfallende Überangebot in die Verbrauchszentren im Ruhr- und Rhein-Main-Gebiet abzugeben, um dort die Einspeisung der dezentralen Heizkraftwerke drosseln zu lassen. Die Windenergie, die im Gegensatz zu öffentlichen Behauptungen kaum CO2-Emissionen vermeiden hilft, hat gewaltige Investitionen zu Lasten der Verbraucher erforderlich gemacht.

Das Erneuerbare-Energie-Gesetz verpflichtete die Netzbetreiber, windbedingte Engpässe auf eigene Kosten, d.h. zu Lasten der Strompreise, zu beseitigen. Das Institut für Elektrische Anlagen und Energiewirtschaft der RWTH Aachen hatte errechnet, daß bis zum Jahr 2016 allein in Deutschland aus diesem Grund 1 500 km neuer Hoch- und Höchstspannungsleitungen (380 KV) gebaut werden müssen (Energiewirtschaftliche Tagesfragen Nr. 9/2003, S. 566). Neben den hohen Einspeisevergütungen liegt in dieser unsinnigen Energiepolitik der Hauptgrund für die hohen Stromkosten und für die Unsicherheit der Netze, da der Umbau des Stromnetzes Priorität vor der Wartung und Erneuerung der Standardnetze hatte.

Folgerung

Die vielgepriesene Liberalisierung des Strommarktes in Verbindung mit der unproduktiven und verschwenderischen Arbeitsbeschaffung durch sogenannte alternative Energien wie die Windenergie hat in Deutschland wie auch in anderen Ländern nicht zu Preissenkungen geführt, sondern zur Verteuerung und zu neuen Problemen. Die Überführung der lebenswichtigen Energieversorgung aus den weitgehend kommunalen Händen der Gebietskörperschaften in die einiger weniger, finanzkräftiger, privater Investoren hat die Preise hinaufgetrieben und die Schaffung neuer staatlicher - leider wenig einflußreicher - Kontrollbehörden wie die Bundesnetzagentur oder andere Preisaufsichtsbehörden erforderlich gemacht.

Aus Rentabilitätsgründen wurde die Wartung der Netze eingeschränkt. Wollte man tatsächlich die Bevölkerung vor der Willkür privater Firmen bei der vitalen Energie- und Wasserversorgung schützen, so sollten wenigstens die Verteilungsnetze in Staatshand und ihre Wartung in der Hand öffentlich-rechtlicher Unternehmen verbleiben.


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