November 2005:

Wiedervereinigung: Was Kohl nicht sagt

Altbundeskanzler bei eine Wahlkampfveranstaltung
Buchbesprechung: Michael Liebig vom Landesverband Rheinland-Pfalz kommentiert das Buch Wendemanöver von Ferdinand Kroh, das sich mit der Vorgeschichte und den Hintergründen der deutschen Wiedervereinigung beschäftigt."

Das Bild zeigt Altbundeskanzler Dr. Kohl bei einer Bundestags-Wahlkampfveranstaltung. Es stammt aus dem hessischen BüSo-Archiv.

Der Politologe und Enthüllungsjournalist Kroh hat ein empfehlenswertes Buch geschrieben, das einen wichtigen Beitrag zur Ausleuchtung der Vorgeschichte und der Hintergründe der deutschen Wiedervereinigung leistet. Kroh war von 1987 bis 1992 als Berlin- und DDR-Korrespondent für Radio RTL tätig. Wenn man Krohs Recherchen mit dem 1999 von Helga Zepp-LaRouche herausgegebenen Band Die verpaßte Chance von 1989-90 "querliest", bekommt man eine ziemlich klare Vorstellung von dem, was vor und bei der "Wende" tatsächlich geschehen ist. Daß Kroh mehrfach Artikel von Helga Zepp-LaRouche, der Neuen Solidarität und EIR als Quellenmaterial zitiert, zeigt, daß er nicht auf ausgetretenen Pfaden der Zeitgeschichtsschreibung wandelt.

Krohs Buch ist auch ein gutes Korrektiv zu Helmut Kohls Memoiren, deren zweiter Band gerade herausgekommen ist. Seine Beurteilung von Bundeskanzler Kohl ist sehr kritisch, aber er hat recht: Kohl hat den Zug der Wiedervereinigung nicht aufs Gleis gesetzt, sondern ist sozusagen im letzten Moment auf den bereits fahrenden Zug aufgesprungen. Kroh tendiert jedoch dazu, das Ausmaß der Obstruktion gegen die Wiedervereinigung - und gegen Kohl persönlich - seitens Frankreichs unter François Mitterrand und Großbritanniens unter Maggie Thatcher zu unterschätzen.

Kroh beschreibt, wie die Sowjetunion dahin kam, ihre durch den Sieg im Zweiten Weltkrieg gewonnene Vorherrschaft in Ost-Mitteleuropa, wobei die DDR sozusagen das "Filetstück" war, zur Disposition zu stellen. Mit dem Hineintappen in die "afghanische Falle", der selbstverschuldeten Abhängigkeit von Energieexporten und Ölpreis sowie der horrenden Auslandsverschuldung schrumpfte der wirtschaftliche Spielraum der Sowjetunion immer mehr. Vor allem aber durch das Wettrüsten mit den USA wurde das Gesamtwirtschaftspotential der Sowjetunion immer mehr aufgezehrt.

Was leider fehlt: die SDI-Frage

Dann kam 1983 die SDI - das amerikanische Programm zur Raketenabwehr, das auf die Beseitigung des strategischen Regimes der gegenseitigen gesicherten nuklearen Vernichtung - "MAD"- hinauslief. Zwar erkennt Kroh die überragende Bedeutung der SDI für den weiteren Verlauf der weltgeschichtliche Ereignisse bis 1989-91, führt das aber leider nicht aus. So wird nicht erwähnt, daß Präsident Reagan der Sowjetführung das Angebot unterbreitete, die SDI-Raketenabwehrtechnologien in gegenseitiger Absprache - sozusagen parallel - einzuführen, und damit das aberwitzige Wettrüsten mit Offensivwaffen zu beenden.

Das wurde von Jurij Andropow abgelehnt, obwohl es in der Sowjetführung wichtige Kräfte gab, die für die Annahme von Reagans Offerte waren. Über die backchannel-Gespräche von Lyndon LaRouche mit der sowjetischen Führung mit dieser Zielrichtung berichtet Kroh auch nicht, obgleich er ansonsten ausführlich die Bedeutung der Ost-West-backchannel-Gespräche in den 80er Jahren behandelt. Ende 1983 sagte LaRouche, mit der Zurückweisung von Reagans Angebot, der "parallelen SDI", habe die Sowjetunion die Chance einer Modernisierung ihres Wirtschaftspotentials verspielt, deshalb werde sie innerhalb von fünf Jahren an wirtschaftlicher Auszehrung zugrunde gehen.

Statt dessen setzte die Sowjetführung unter Gorbatschow weiter alle Hebel in Bewegung, um die SDI zu Fall bringen, einschließlich der Forderung in führenden Moskauer Medien, LaRouche müsse politisch und juristisch ausgeschaltet werden. Auf dem Gipfeltreffen zwischen Reagan und Gorbatschow in Reykjavik im Oktober 1986 bot die Sowjetführung den Abbau ihrer sämtlichen gegen Westeuropa gerichteten Mittel- und Kurzstreckenraketen an, wenn die USA die SDI aufgäben. Reagan lehnte ab. Im Jahre 1986 wurden die wahrscheinlich wichtigsten deutschen SDI-Experten - der technische Experte Kurt Beckurts und Gero von Braunmühl aus dem Auswärtigen Amt - ermordet. Die "RAF"-Terrorgruppe übernahm in beiden Fällen die Verantwortung, was Kroh richtigerweise als Ablenkungsmanöver der tatsächlichen Urheber der Mordanschläge betrachtet.

Insbesondere Krohs Ausführungen zur Ermordung von Braunmühls wenige Tage nach dem Reykjavik-Gipfel sind sehr aufschlußreich. Aber 1986 wurde auch Olof Palme ermordet und in den Weltmedien zunächst LaRouche für seinen Tod verantwortlich gemacht. Am 6. Oktober, wenige Tage vor dem Reykjavik-Gipfel, wurden die Büros der LaRouche-Bewegung in der Nähe Washingtons von einem Großaufgebot von 400 Polizisten besetzt und führende Mitarbeiter verhaftet. LaRouche Wohnsitz wurde stundenlang umstellt; eine Fehlreaktion hätte einen Sturm auf das Gebäude auslösen können, den LaRouche wahrscheinlich nicht überlebt hätte.

Im Oktober 1986 blieb LaRouche am Leben, aber es begann eine jahrelange politisch-juristische Verfolgungskampagne, die im Januar 1989 zu seiner Verurteilung zu 15 Jahren Gefängnis führte. Der ehemalige US-Justizminister Ramsey Clark sprach von einer beispiellosen Rechtsbeugung, die er in seiner ganzen Laufbahn nie zuvor erlebt habe.

Die Sowjets können Ost-Mitteleuropa nicht halten

Nach 1986 war klar, daß das sowjetische Imperium nicht mehr zu retten war - die "Alternative" wäre ein nuklearer Weltkrieg gewesen. Es ging also nur noch um das "wann" und "wie" der Abwicklung des Sowjetimperiums. Dabei sind Krohs Gespräche mit Prof. Wjatscheslaw Daschitschew und Valentin Falin, die in sein Buch wiederholt einfließen, höchst aufschlußreich. Das gleiche gilt für seine Interviews mit Befürwortern der sowjetischen Perestroika im DDR-Machtapparat, die von Honecker und Mielke kaltgestellt wurden. Dabei ist höchst interessant, daß der damals in der DDR stationierte KGB-Offizier Wladimir Putin aktiv daran beteiligt war, eine Perestroika-Fraktion im Staats- und Parteiapparat der DDR aufzubauen, was aber am Widerstand der SED- und Stasi-Führung scheiterte.

Kroh betont die Bedeutung der intensiven Konsultationen zwischen Spitzenleuten der amerikanischen und sowjetischen Geheimdienste während der 80er Jahre. Deshalb wußte die amerikanische Regierung spätestens seit 1986, daß die Sowjetführung bereit war, sich gesichtswahrend und gegen einen angemessenen wirtschaftlichen und politischen Preis aus Ost-Mitteleuropa zurückzuziehen. Unter diesen Umständen war die Weiterexistenz der wirtschaftlich und finanziell völlig bankrotten DDR unhaltbar geworden. Anknüpfend an seine Prognose von 1983, erklärte Lyndon LaRouche im Oktober 1988 in Berlin, daß die Wiedervereinigung Deutschlands in greifbare Nähe gerückt sei.

Keine Initiative aus Bonn

Was LaRouche da in Berlin sagte, führte in der Bundesrepublik höchstens zu Kopfschütteln. Zu diesem Zeitpunkt zielte die Politik der Regierung Kohl noch voll auf die - primär finanzielle - "Stabilisierung" der DDR im Tausch für "menschliche Erleichterungen". Eine Gruppierung innerhalb der CDU/CSU, die wahrscheinlich aus den USA "ins Bild gesetzt" worden war und sich für eine aktive Wiedervereinigungspolitik einsetzte, wurde von Kanzler Kohl ausgegrenzt. Kroh erwähnt hierbei die Bundestagsabgeordneten Prof. Bernhard Friedmann, Jürgen Todenhöfer und Peter Gauweiler.

Aber auch die Sowjetführung selbst hatte schon 1987 gegenüber Friedrich Wilhelm Christians und Alfred Herrhausen von der Deutschen Bank unmißverständlich signalisiert, daß sie bereit waren, gegen entsprechende finanzielle und wirtschaftliche Leistungen der Bundesrepublik an die Sowjetunion, die DDR aufzugeben. Auch darauf reagierte die Regierung Kohl nicht.

Aber die US-Regierung - im Januar 1989 folgte George H.W. Bush auf Präsident Reagan - war entschlossen, die Abwicklung des Sowjetimperiums in Ost-Mitteleuropa, mit Nachdruck zu forcieren und zwar zu ihren Bedingungen: "Freie Marktwirtschaft" anglo-amerikanischen Typs in Ost-Mitteleuropa und NATO-Zugehörigkeit des vereinigten Deutschland. Im Frühjahr 1989 begann der CIA-Veteran General Vernon Walters seine Tätigkeit als US-Botschafter in Bonn. Walters und der CIA-Resident in Bonn Milton Bearden leiteten "aktive Maßnahmen" ein, ohne die die "spontanen" Ereignisse der folgenden Monate und die Schnelligkeit, mit der sie erfolgten, nicht verständlich sind: die Öffnung der Westgrenze Ungarns, die Fluchtwelle von DDR-Bürgern aus Ungarn, das Flüchtlingsdrama in der Prager BRD-Botschaft und die Massendemonstrationen in der DDR selbst. Das alles wurde nicht "inszeniert", aber es wurde mehr als nur "nachgeholfen".

Offensichtlich gab es ein sowjetisch-amerikanisches understanding, daß die Sowjetunion zu keinen gewaltsamen, militärischen Unterdrückungsmaßnahmen greifen würde, solange der Protest- und Veränderungsprozeß in Ost-Mitteleuropa friedlich bliebe. Und Moskau erklärte sich bereit, die Öffnung der innerdeutschen Grenze zuzulassen, wie es dann am 9. November 1989 geschah.

Kohl handelt - Herrhausen wird ermordet

Erst nach dem Fall der Berliner Mauer ergriff Kanzler Kohl "den Mantel der Geschichte" und griff aktiv in das Geschehen ein. Am 28. November 1989 legte er seinen "Zehn-Punkte-Plan" für eine Konföderation der beiden deutschen Staaten vor. Kohl hatte den französischen Staatspräsidenten Mitterrand und die britische Premierministerin Thatcher nicht über den "Zehn-Punkte-Plan" informiert. Nun traf ihn der Zorn dieser beiden, die eine Wiedervereinigung Deutschlands kategorisch ablehnten. Zwei Tage später, am 30. November 1989, wurde Alfred Herrhausen ermordet.

Die Selbstbezichtigung der "RAF" für den Herrhausen-Mord ist noch weit unglaubwürdiger als bei früheren Anschlägen. Kroh bezieht sich ausführlich auf die Recherchen im Mordfall Herrhausen der Neuen Solidarität, die die Unhaltbarkeit der "RAF-These" belegen. Herrhausen wurde in einer "Bestrafungsaktion" von Geheimdienst- und Finanzkreisen ermordet, die damit eine unmißverständliche "Warnung" an den Bundeskanzler, dessen enger Berater Herrhausen war, richteten, keine "deutschen Alleingänge" zu wagen. Die Urheber des Mordanschlags sind sowohl im Geheimdienst- und Finanzmilieu der USA wie Großbritanniens und Frankreichs zu suchen.

Es ist fraglich, ob Kohl ohne den Mord an Herrhausen die "Bedingungen" akzeptiert hätte, unter denen schließlich Frankreich und Großbritannien die Wiedervereinigung zuließen. Die Hauptbedingung war, daß das wiedervereinigte Deutschland den Kern seiner Souveränität - die Währungshoheit - aufgab und die D-Mark abschaffte. Letztendlich mußten Frankreich und Großbritannien die Wiedervereinigung zulassen, weil sich die sowjetische Regierung und die US-Regierung in dieser Frage einig waren. Die Einigung war Anfang Dezember 1989 auf dem Bush-Gorbatschow-Gipfel vor Malta erzielt worden.

Die Sowjetführung war bereit, Ost-Mitteleuropa aufzugeben, um damit die Sowjetunion zu retten. Aber Ende 1991 zerbrach auch die Sowjetunion. Die Ausleuchtung der Hintergründe des Zerbrechens der Sowjetunion wäre sicherlich ein lohnendes Buchprojekt. Auf jeden Fall ist Krohs Wendemanöver eine lohnende Lektüre, die wichtige Mosaiksteine für das Gesamtmosaik der 80er und 90er Jahre des 20. Jhs. offenlegt.


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